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Freitag, 21. Februar 2014

Schamlos ins Nichts

(Aus der FAZ) Der Erziehungswissenschaftler Hans-Jochen Gamm schrieb 1970: „Wir brauchen die sexuelle Stimulierung der Schüler, um die sozialistische Umstrukturierung der Gesellschaft durchzuführen, und den Autoritätsgehorsam einschließlich der Kinderliebe zu den Eltern gründlich zu beseitigen.“ 

Er bezog sich auf Freud: „Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig, die Zerstörung der Scham bewirkt die Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.“

(Fragment, in Reaktion auf den sehr lesenswerten, guten Artikel der FAZ; Johannes Paul II. hat zu dem Thema, mit vielfachem Bezug auf Max Scheler, mehrere Bücher geschrieben, die sich dem rational so schwer faßbaren, dabei in jeder subjektiven Gewißheit so präsenten Thema - Indiz für seine Seinsnähe, seine Qualität als Urphänomen - immerhin nähern)

Die sexuelle Stimulierung zieht den inneren Blick - das reflexive, urteilende "Ich" als die eigentliche geistige Kernsubstanz - vom Ursprung, dem Einen ab, macht den Menschen sohin unvernünftig. Denn Sexualität ist ihrem Wesen nach ein Akt innerhalb der Vernunft, wird aber bei Überstimulation, die sich speziell in der Gewohnheit zu einer kräftigen Komponente, einem zentrifugalen Vektor der Willenskraft sozusagen, entwickelt.

Während die Scham, über die als Grundgeschehen jeder Mensch von Beginn an verfügt, sich ihre Bezugspunkte im Spannungsfeld aus dem Zuinnersten einerseits, und dem allgemeinen Sittenbild (mit seinem impliziten, aber allgemein Bild des Gesollten) sucht, wird sie zur Zerreißnaht, wenn das öffentliche Klima Schamlosigkeit predigt. Denn Scham entsteht dort, wo etwas verfehlt wurde (oder in Gefährdung steht, verfehlt zu werden - siehe: Erröten ...), das zu erreichen (gewesen) wäre, und das zu erreichen man als Anspruch auch erfahren hat.

Diese bringt - in einem Klima der Schamlosigkeit - den Einzelnen in Widerspruch zu sich selbst, und zerstört damit die Vernunftspannung. Wer ein Kind also zur Schamlosigkeit erzieht, wie es heute tatsächlich vielfach passiert, wirft es in ein tobendes Meer, in dem es nur an der Oberfläche dadurch Halt findet, als es um sein Überleben - wortwörtlich, als Bestand haben im Logos, der Vernunft selbst, und nur dort findet das Ich seinen Selbststand, in der Eigenverantwortung, die sämtliche inneren, schon in der Physis entstehenden Spannungen einbindet und beantwortet - rudert. 

Weshalb der Schamlose ein ausgeprägtes "Missionierungsverhalten" zeigt, seiner Umgebung die Scham zu entreißen versucht, durch Bloßstellung etwa, durch Normalisierung des Klimas der Schamlosigkeit, oder gar durch Zwang - wie es heute in den Schulen sogar autoritär verordnet passiert.

Die Scham bewahrt das Gestalthafte, sinnlich Wahrnehmbare, in seiner eigentlichen Wirklichkeit: Dem geistigen Bezug, der (nur!) geistigen Ordnung. Sie bewahrt vor der Reduktion der Wahrnehmung auf vom Wollenszentrum losgelöste Teilwillen. Weshalb sich - in der Sexualität etwa, als tiefstem Selbstvollzug - die Scham selbst unter Eheleuten erhält, solange sie einander nicht instrumentalisieren, im Namen eines Teilwillens.* Deshalb gilt es nicht als schamlos, den Säugling zu säugen, sehr wohl aber, derselben Person (als Mutter) in der Pubertät seine Brüste zu entblößen, nur als Beispiel.

Wer sich schämt (und sich noch schämen kann - ein Loblied auf alle, die noch in der Lage sind, zu erröten!) -  weiß sich aufgedeckt in seinem Ungenügen vor diesem geistigen Sollenshintergrund, in gewisser Hinsicht: wo immer er herstammt. Weshalb das Schamgefühl selbst ein allgemeines Wesensprinzip des Menschen als Person ist, das in seiner Formung auf konkrete Inhalte natürlich nur im Kulturbezug, der das Idealbild als konkrete Normengestalt enthält, ausgefaltet werden kann.**

Weil Scham eben ihren Bezug im absoluten Wertgefüge des Seins hat - als das dem Seienden, dem Dinghaften zugrundeliegende, gleichzeitig vom Dinghaften in Teilhabe angestrebte - so gibt es zwar einerseits keineswegs eine wirkliche Erziehung zur SchamLOSIGkeit, weil sie sich andere Wertbezüge sucht (jemand, der nichts mehr dabei empfindet, vor Wildfremden nackt herumzuhüpfen, schämt sich, wenn er eine Aluminiumdose nicht in Mülltrennung entsorgt)

Was im Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als vorwiegend sexuelle "Entschränkung" der Jugend im Internet/social media diagnostiziert wird, als Schamlosigkeit, ist in seinen meisten Aspekten der Versuch, den Zwiespalt aus diesem gefühlten Konflikt - historische Wertgefüge und innerstes Wertempfinden -  dadurch zu erschlagen, als das eigene Konfliktempfinden durch Behauptung zum Allgemeinen, zur Norm gemacht werden soll. Ein Bemühen, das natürlich immer scheitern muß (woran dann andere für schuldig erklärt werden, namentlich repressive, "überholte" Erziehung der Väter).

Aber das - der Verfasser traute manchmal seinen Augen und Ohren nicht! - was als Erziehungsziel das Ablegen jeder Scham tatsächlich meint, ist aber noch mehr als auf bestimmte Gebiete (Sexualität) bezogen. Einem Generalgefühl folgt eine Generalantwort: Es ist das Ablegen JEDER Spannung zu einem Sollenshintergrund, dem gegenüber jemand sein Dasein verantwortlich (zur Antwort verpflichtet) weiß. Und es ist damit der gezielte Versuch, die Vernünftigkeit des Menschen, und damit seine Geistigkeit, zu zerstören. Und damit das Menschsein selbst.

Nacktheit, aber nicht Schamlosigkeit - Michelangelo, Sixtinische Kapelle
Damit ist auch klar, was die Scham von "Prüderie" fundamental unterscheidet. Letzere ist ein moralistischer, idealistischer Gestus. Die Scham selbst aber geht auf die Substanz, das historische, reale Sein, und hat deshalb immer (auch) ein zeit-relatives Gesicht. Weshalb es sehr wohl möglich (und geschehen) ist, daß eine Zeit eine (sagen wir: erotische) Darstellung schamlos empfindet, die eine andere völlig anders rezipiert. Die Darstellung von Nackten hat in der Renaissance großen Wirbel verursacht. Die Fresken in der Sixtinischen Kapelle wurden gar übermalt! Aber ein "nackter Adam", dessen männliches Glied man sieht, ist nicht an sich schamlos, sondern tatsächlich nur in Bezug auf den (historisch festzumachenden) Stand der Geistigkeit des Betrachters. Ja, die (die Zeit selbst erregende) Darstellung der Menschen fast prinzipiell als "nackt" war genau das Gegenteil im Auge des Michelangelo: Sie war Ausdruck der höchsten Sittlichkeit, wie sie im Himmel herrscht.

Dem Sittenlosen freilich ist jeder entblößte Schenkel einer Frau "unsittlich". Dem Sittlichen hingegen höhere Form der Beziehung der Schöpfung zu Gott, die in sich erotisch, in der gefallenen Welt freilich eine "stachelige Frucht" weil historisch relativ aufnehmbar, erkennbar ist. Die Kirche selbst wird vielfach - sehr erotisch! - als jungfräuliche Braut, voller Eros, dargestellt. (Und das ist sie ja wohl auch, im Bezug auf Gott.) Keineswegs ist also DER mit mehr Schamhaftigkeit gesegnet, der jeden Blick auf ein erotisches Element verweigert. Es ist relativ zur sittlichen Fassungskraft, das ist das Entscheidende. Der hoch Sittliche kann auch erotische Fresken (wie in dem Fall: mit Nackten) nicht nur ertragen, sie sind sogar gemäßer, wahrer Ausdruck höherer geistiger Realität.

Der Schamlose verliert aber überhaupt JEDE Fähigkeit, eine Persönlichkeit (Gestalt) zu formen. Er bleibt damit dem Peripheren (Vielfältigen) ausgeliefert, es mangelt ihm an der Fähigkeit der Spannungstrage zum Ursprung, zum eigenen innersten Empfinden. Sein einziger Halt bleibt - im Moralismus, im Gesetzeswerk. Das meint auch Freud, zumindest sollte man ihn so lesen, damit was er (oft sehr wahrhaftig beobachtet) schreibt Sinn erhält. 

Persönlichkeitsdiffusion², als DER Grundzug heutiger Pädagogik (und Psychologie), und Schamlosigkeit sind also nur je eine andere Seite der Medaille. Die heute Generalpostulat jeder Pädagogik seiende Erziehung zur Schamlosigkeit ist deshalb ein Weg kollektiven Mißbrauchs junger Menschen. Nahezu sämtliche psychosozialen Phänomene der Gegenwart lassen sich deshalb als Phänomene des Mißbrauchs klassifizieren. Daß man ihm mit so kollektiver "Geste der Entrüstung" begegnet, zeigt das überdeutlich. Denn es geht auf Kosten der Fähigkeit des Einzelnen, tatsächlichen - als "sexuelle Tat" identifizierten - Mißbrauch zu verarbeiten. Und das wäre sehr wohl möglich, Mißbrauch ist keineswegs eine Verdammung zu einem Schicksal, zu der er heute in so offenem Widerspruch zum gesellschaftlichen Habitus hochstilisiert wird. (Siehe der Verfasser dieser Zeilen in "Helena oder: Das Gute ist was bleibt", Roman, Passagen-Verlag, Wien)


*Der hohe Anteil an zweitwirklicher Sexualität, wie er allen Erhebungen (und Beobachtungen) nach heute alltäglich ist, wo also das sexuelle Erleben zu einem "Spiel der Phantasie" wird, ist im Grunde Zeichen einer unglaublichen Impotenz. Weil die sexuelle Zuwendung aus dem Ganzen der Person heraus gar nicht mehr genährt werden kann, muß sie als Teilwille behandelt und aktualisiert werden. Der zweitwirklich sexuell Tätige liebt nicht, kann auch gar nicht lieben, und muß sich deshalb das Gegenüber vorenthalten, und gewisse seiner Eigenschaften den Forderungen eines instrumentalisierten Teilwillens unterwerfen, um Liebe simulieren zu können.

Otto Weininger ist übrigens der Ansicht, daß deshalb gerade sehr geistige Menschen zu gar keiner anderen Sexualität mehr in der Lage sind, als zur damit ideellen Simulation sexualer Körperlichkeit. Weshalb vor allem geistig Tätige so auffällig (damals, 1923!) sexuelle Rollenspiele suchten - Sado-Maso-Praktiken etwa. Darin liegt sogar eine subtile Begründung der Homophilie der Griechen zu finden. Der Verfasser dieser Zeilen hat freilich den Verdacht, daß damit zwar tatsächlich etwas zum Verstehen des Phänomens beigetragen ist - aber keinesfalls auf ontologischer Ebene. Das zeigt sich schon darin, daß die heute so verbreitete ("Ausleben der Phantasie") sexuelle Zweitwirklichkeit zwar - ja - "idealistisch" ist, aber keineswegs GEISTIG. In jedem Fall entfremdet die Pseudologie, und zwar gerade in der Sexualität, und macht das Gegenüber zum reinen Objekt, zum Mittel zum Zweck. Jeder Vollzug entfernt also zwei solcher "Partner",  für die diesmal der Begriff tatsächlich zutrifft: Kumpane, die übereinkommen, sich gegenseitig in sich zu halten, zustimmen, sich gegenseitig zu mißbrauchen. Die Folgen sind entsprechend - Aufbau von Haß, den es nur mehr oder weniger zu unterdrücken gilt, so lange besteht dann auch diese "Beziehung".

**Wer gut beobachten kann, wird deshalb bei seinen eigenen Kindern schon im frühesten Kindheitsalter Formen des Schamgefühls entdecken können, das sich in verschiedensten Bereichen entwickeln. Es lassen sich daraus übrigens die Fundamente der Wertstruktur des Heranwachsenden (der Verfasser sagt aus Beobachtung an seinen eigenen Kindern sogar: schon im Kleinstkindalter) erkennen, wenn vielleicht auch erst später deuten, wenn sich die Ausgestaltung der Persönlichkeit des Heranwachsenden allmählich inhaltlich konkretisiert hat.

²Zur Ausdeutung dieses Begriffs, den der Verfasser dieser Zeilen in dessen Büchern so erhellend eingeführt  fand, darf auf den erst vor einigen Jahren verstorbenen, großartigen vormaligen Mainzer Universitätsdozenten für Pädagogik Walter Braun hingewiesen werden, mit dem der Verfasser, so lange der schwerkranke Mann dazu noch in der Lage war, in Briefkontakt stand. Einer der "Schlüsselmenschen" im Lebensweg des Verfassers, ganz gewiß, dem er viel verdankt. Es ist wirklich bedauerlich, daß seine hochgescheiten, gelehrten, gewiß aber nicht wie ein Blockbuster spannungslos konsumierbaren Bücher (man nehme etwa das zum Vater-Problem) so wenig bekannt sind. Gott hab ihn selig!





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