Die Berichtslage über die Völkerwanderung seitens kirchlicher Schriftsteller in den ersten vier Jahrhunderten n. Chr. ist erstaunlich dünn. Und bleibt vorwiegend auf kirchliche, theologische Probleme bezogen. Man fühlt sich generell in einer Endzeit, und so ist den Bischöfen und gelehrten Schreibern eher der Arianismus der Germanen ein Problem. Politisch sind sie kaum interessiert.
Diese Aufgabe wächst ihnen erst allmählich zu. Denn es sind die Römer, die im 5. Jhd. ihre Posten verlassen und nach Italien zurückgehen oder Hauptziel der Raubzüge der Germanen sind. Die Bevölkerung wird im Stich gelassen, es fehlen ihr die Organisatoren, die Eliten. So übernehmen die Bischöfe zwangsläufig auch diese Aufgaben, und sie organisieren nach römischen Strukturen die heimgesuchten Länder Westeuropas. Nach 453 ist Rom überhaupt politisch nicht mehr existent, und die allgemein Stimmung ist die einer Erwartung des Endes der Welt.
Die Kirche ist es, die (nicht nur in Gallien) die Strukturen aufrechthält. Ihre Stellung, ihre Treue zum Volk, drückt in der organisierten Caritas ebenso aus, notwendig, weil die einfallenden Germanen immer wieder alles verwüsten und plündern, was ihnen unter die Finger kommt, wie auch in einer Charakterfestigkeit und Furchtlosigkeit, die bei den Germanen größten Eindruck macht. Dazu kommt ihre geistige Überlegenheit, die den Eindringlingen größten Respekt abnötigt. Vor allem diese Faktoren machen die Germanen sehr geneigt, das Christentum erst als Macht anzuerkennen - die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig 496 ist auch als pragmatische Allianz zu verstehen - und dann in erstaunlichem Tempo anzunehmen. Und ihre Charaktereigenschaften sind es, die es bald zu großer Frömmigkeit treiben.
Denn die Germanen selbst sind in allen Zeugnissen als furchtsames, leicht zu entmutigendes, dabei äußerst neugieriges Volk beschrieben. Das alles und jedes glaubt, und deshalb voller Aberglauben ist. Nirgendwo sonst, so wird berichtet, haben Gerüchte alleine schon ausgereicht, um Überzeugungen zu festigen. Die zahllosen Legenden um Heilige und Wundertaten, die dort entstanden, sind ein Zeugnis dafür.
Die soziale Struktur ihrer Stämme ist plutokratisch, bestimmt von einzelnen Fürsten und Mächtigen, die königshofähnliche Haushalte führen, und brutal und voller eifersüchtiger Habgier die Mehrheit des einfachen Volkes unterdrücken und ausbeuten. Sieht man vom Druck der einbrechenden Hunnen ab, sind viele Angriffe der Germanen auf römisches Territorium nur in Habsucht und Gier der Fürsten motiviert. Es ist damit kein Zufall, daß sich dort der Arianismus so verbreitet hat, der das Heil vom Weltlichen abtrennt, der Lebensführung keine Rolle beimißt. Eine Haltung, die sich im Protestantismus 1000 Jahre später wiederfindet. Und auch dann wieder von den Fürsten so unterstützt wird.
Und - sie reden gern, und sie reden viel. Daß sich die antike Bildung, die auf der Rhetorik beruhte, in Gallien noch so lange hielt, war den Germanen zuzuschreiben, die vielen Berichten nach lange und wohlgeformte Reden liebten.
Anders als die Römer, die tief hoffnungslos vom Ende ihrer Kultur und damit dem nahen Ende der Welt überzeugt sind, und damit auch wenig katholische Glaubenssubstanz beweisen. Vielfach war ihnen das Christentum eben auch eine Erfolgsreligion gewesen. Nun, wo ihre Welt niederbricht, wenden sie sich ab, ja machen die Abkehr von den alten Göttern - im Christentum - für den Zusammenbruch des Staates verantwortlich. Sie verfallen sittlich, leben sexuell aussschweifend und zügellos, "so lange es noch zu leben geht" (was etwa im reichen Nordafrika die Vandalen tatsächlich übernehmen, und bald völlig aufgehen).
In dieser Stimmung ist die Häresie des Arianismus den Kirchenschriftstellern ein Vorbote des leibhaftigen Antichrist, der zum Ende der Zeit kommt. Und nur das interessiert lange Zeit. Der Ernst der anstürmenden Völker, der riesigen Umbrüche wurde ja lange Zeit gar nicht erkannt. Von niemandem. Noch im 4. Jhd. wird die weltpolitische Lage als eine große Ruhe empfunden. Die gallische Dichtung spricht allerdings oft von einem nahen Weltende, denn das war die allgemeine Stimmung.* Eschatologische Stimmungen aber waren keineswegs Ergebnis der Völkerwanderung, sie wurden später auf sie übertragen.
Deshalb kommen die Germaneneinfälle als Thema in den schriftlichen Zeugnissen kaum vor vor, war in Anbetracht ihrer im Rückblick entscheidenden Bedeutung erstaunt. Selbst bei führenden Schriftstellern der Zeit, wie einem Ausonius, der sogar 368 an Feldzügen gegen Germanen in Trier dabei ist (die längst von Rom mit germanischen Söldnertruppen geführt werden), dort jahrelang lebt, wird mit keinem Wort von einer Bedrohung Roms geredet. Man fürchtete ein allgemeines Ende, einen Niedergang, fühlte ein abstraktes "Ende der Welt" kommen. Aber sah nicht, was ganz real passierte.**
Schon nach den großen Anstürmen im 5. Jhd. wird in den kirchlichen Berichten zunehmend aber an den Germanen ihre Sittlichkeit, ihre Keuschheit und ihr Familiensinn gelobt. Mehr und mehr werden sie auch von Kirchenschriftstellern nicht mehr zuerst als dogmatische Feinde und barbarische Boten des Endes, sondern als die politische Zukunft Europas erkannt.
*Die gallische Dichtung "laudes domini", von einem unbekannten Verfasser um 320 geschrieben, ist darin typisch. Sie erzählt ein Begebnis, wo ein Mann, der seiner Frau nachstarb, nun in ihr Grab gelegt wurde. In diesem Moment habe sich, so die Mär, deren linke Hand zum Gruß gehoben. Für den Dichter ein sicheres Zeichen, daß Christus seine Wiederkunft und damit die Auferstehung der Toten vorzubereiten beginne.
**Aurelius Augustinus ist hier nochmals exemplarisch. Er kommt gleichfalls in Nordafrika mit den Vandalen in direkte Berührung, und er deutet die Germanen, das Kommende, ja die Geschichte - als Heilsgeschichte. Nicht der Kampf Römer gegen Germanen ist ihm wichtig, sondern der um die Wahrheit und Sittlichkeit. Wie der Staat heißt, unter dem der Mensch historisch lebt, ist unwichtig. Den Niedergang Roms sieht er in einer historischen Kontinuität des sittlichen Verfalls, als Läuterung des "Rom-Aberglaubens". Sein Staat - die "civitas Dei" - ist eine überweltliche Dimension. Der Germaneneinfall ist ihm Wirkung der strafenden Hand Gottes.
**Aurelius Augustinus ist hier nochmals exemplarisch. Er kommt gleichfalls in Nordafrika mit den Vandalen in direkte Berührung, und er deutet die Germanen, das Kommende, ja die Geschichte - als Heilsgeschichte. Nicht der Kampf Römer gegen Germanen ist ihm wichtig, sondern der um die Wahrheit und Sittlichkeit. Wie der Staat heißt, unter dem der Mensch historisch lebt, ist unwichtig. Den Niedergang Roms sieht er in einer historischen Kontinuität des sittlichen Verfalls, als Läuterung des "Rom-Aberglaubens". Sein Staat - die "civitas Dei" - ist eine überweltliche Dimension. Der Germaneneinfall ist ihm Wirkung der strafenden Hand Gottes.
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