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Freitag, 8. November 2013

Sich selbst auf den Leim gegangen

Es ist bezeichnend für ein Mißverständnis, dessen Grundlagen hier in nächster Zeit etwas aufgearbeitet werden sollen. Reißen wir es einmal an.

Der ungarische Jobbik-Politiker² Csanad Szegedi, so wird es kolportiert, sei einst ein Judenhasser gewesen. Bis ein pikantes, im selbst unbekannt gebliedenes Detail aufgetaucht war: Er hat eine jüdische Großmutter. Das hat ihn nun völlig gedreht, und er lebt heute mehr oder weniger als einer der 75.000 Juden, die es in Ungarn noch gibt. Hält den Sabbat, und geht in die Synagoge.

Was ist daran signifikant? Der Irrtum zu meinen, das Judentum sei eine "rassische" Angelegenheit, betreffe quasi die genetische Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. 

So wurde es spätestens unter den Nationalsozialisten dargestellt. Aber diese Meinung ist ein Irrtum, der tatsächlich etwas Lächerliches an sich hat. Es gibt kein "jüdischrassiges Gen". Ja, wenn man von leiblichen Nachfahren der Juden des Alten Testaments spricht, müßte man zuerst die Palästinenser hernehmen. Jene "abgefallenen Juden", die nicht in die Diaspora gewandert waren. Menschen, die seit Jahrtausenden im heutigen Israel gelebt haben. 

Das Judentum heutiger Prägung, das mit "Israel" identifiziert wird, ist eine Erfindung, eine Idee, und darin Zuspitzung einer immer spezifischer gewordenen, jahrhunderte-, jahrtausendelangen "Überlebensstrategie". Es ist eine geistige, psychische Haltung, nicht einmal zuerst eine Religion. Und hat insofern charakterliche Auswirkungen, wie sie für eine sich abschließende Bevölkerungsgruppe, die insofern natürlich auch gewisse leibliche Herkunftsmerkmals weitergibt, sehr typisch sind. Nur insofern wird also "Judentum" weitergegeben.

Wenn es sich "rassisch" ausgeprägt hat, dann somit als eine Art Zufallserscheinung: weil die vielfachen Wanderungen der Juden, ihre Heimatlosigkeit, natürlich immer wieder Gruppierungen in neue Gebiete brachte, in denen sie - so, als würde ein Österreicher nach Südamerika auswandern und dort in einer Österreicher-Enklave leben, auch dort fiele er "rassisch anders" auf - eben auffielen. Dabei sich aber zu großen Teilen assimilierten, also bald gar nicht mehr "auffielen". In Deutschland waren 1933 bereits an die 35 % der Juden (Wirkung gesetzlicher Gleichstellungen im 19. Jhd.) assimiliert, hatten sich taufen lassen, standen in "Mischehen", sodaß irgendwann jede Form des "Judentums" verschwunden wäre. Genau diese Assimilierung war ja so manchen Kreisen "des Judentums" selbst ein Dorn im Auge.

Es auf rassische Eigenart festzulegen war eine Art Ausflucht**. Um das geistige Unbehagen* zu konkretisieren, zu "begründen", den Feind zu benennen, sichtbar zu machen, der gerade dabei war, sich unsichtbar zu machen - durch Assimilation. (Was zu verhindern übrigens auch Ziel des Zionismus war.) Unter Zuhilfenahme der gerade aufkommenden populären naturwissenschaftlichen Theorien, namentlich der Evolutionstheorien (das Leben als Überlebenskampf, wo etwa Nietzsche, der ja auch wiederum in einem historischen geistigen Strom der Zeit steht, bestens hineinpaßte) und der Genetik.

Deshalb wird jedes Reden von Antisemitismus, der sich auf diese "Blutseigenschaft" bezieht, den Realitäten gar nicht gerecht. Weil es seine Entstehung mißversteht. Sie aufs "Blut" zu schieben, sich deshalb als Jude zu fühlen weil man von "Juden" abstammt, ist eine Art Treppenwitz der Geschichte. Hier werden Antisemiten eines gewissen Typus Opfer ihrer eigenen Irrtümer. Historisch ist Antisemitismus aber ganz gewiß und nur anders - geistig, psychisch, soziologisch - zu verstehen. Wer nämlich glaubt, den Antisemitismus deshalb lächerlich machen zu können, weil sich Judentum eben nicht im Verhältnismaß der Wangenknochenabstände zur Nasenlänge ausdrückt, verkennt ihn und mißversteht seine Geschichte. Er unterschätzt das Problem völlig, und damit seine Aktualitätsdimension. Darüber bald mehr an dieser Stelle.



*Zumalen in einer Zeit des aufkommenden Kapitalismus (man verwechsele den Begriff nicht ständig mit "freier Marktwirtschaft"!) des 19. Jhd., der das gesamte kulturelle Leben unter seine Fuchtel nahm und bestimmte, sodaß generell ein Unbehagen an der Zivilistation entstand. Das heute so groß ist wie noch nie. Der Verfasser dieser Zeilen ist deshalb geneigt jenen zuzustimmen, die meinen, daß wir einem neuerlichen Aufkommen von Pogromen entgegengehen. Die Art, wie die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise argumentativ behandelt wird, das Aufkommen eines neuen Antikapitalismus, und sei es nur als Gefühl, als Stimmung, gerade dort wo diese Haltung Auslassungen vornimmt und Themen vermeidet, läßt das bereits erkennen.

**Es ist bekannt, daß Hitler selbst sich stets weigerte, das Deutschtum auf "blond und blauäugig" offiziell festzulegen. Zwar gab es den Begriff der "Aufnordung", aber mehr als 50 % der deutschen Bevölkerung waren nie blond und blauäugig. Die prozentual häufige Blondheit der Bayern etwa ist sogar keltischem Einfluß zu verdanken. Das Germanentum ist historisch besonders bekannt dafür, daß es sich keinen Fremdeinflüssen, die ihm vorteilhaft erschienen, versperrte, sich selbst überall und jederzeit assimilierte (siehe: die Geschichte der Germanen in Südeuropa). Man kann dies durchaus auch als "positive Volkseigenschaft" der Wirklichkeitsoffenheit sehen.

²Jobbik wird im Ungarischen verwendet für die Besseren, die Richtigeren. Nominell heißt es freilich: die Rechteren, aber kein Wort heißt seine Nominalität. Das ist höchstens ein Wortspiel hier, eine bewußte weil ideologischen Kampfkriterien entsprechende, emotionalisierende Fehldeutung dort.




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