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Mittwoch, 2. März 2016

Wurzel des Radikalismus

Die Verdichtung der Sprachatmosphäre in den social media, wie sie jeden umgibt, das also was man so irreführend "Informiertheit" nennt, bringt den Einzelnen unter permanenten Entscheidungsdruck. Denn er muß sich stellen. Er muß, sobald er an diesem Informationsfluß teilnimmt, sich eine Meinung bilden.

Aber er ist zwangsläufig damit überfordert. Denn der Mensch kann nur im Rahmen seiner Identität, seiner unmittelbaren Existenz überhaupt ethisch urteilen. Und das heißt, daß das, was schon dem Philosophen, dem Künstler, dem Priester so schwer ist, obwohl es ja ihr "Kerngeschäft" ist, das Finden der Abstrakta, des Allgemeinen in seinen Konkretionsformen des Vielfältigen, eine Distanz braucht, die dem Menschen des Alltäglichen - als eigentlichem Körper einer Gesellschaft - nicht nur nicht möglich ist, sondern seinen Lebensvollzug der Hingabe an das, was er tut, an seine konkreten Aufgaben, behindern würde.

Das meiste also, was den Menschen heute an Problemen überschwemmt, befindet sich auf einem Niveau, das seinen Entscheidungshorizont bedeutend übersteigt. Denn Urteil hat seinen Ursprung in einer personalen Antwort, also in der Persönlichkeit. Und diese wiederum fundiert sich aus dem Stand, aus den nächsten Tagesaufgaben, dem Anruf des Kunden, dem Quängeln der Kinder.

Mir Recht erhofft und erwartet der Mensch deshalb von der Politik, von der Elite, daß sie auf ihrer abstrakten Ebene jene Entscheidungen trifft, jene Weichen stellt, die sein Leben wenigstens halbwegs nach Vorstellungen ablaufen läßt, die er als "normal" direkt erlebt. (Was nichts mit dem faktischen Willkürlichen zu tun hat, auch ncihts mit zufälligen Befindlichkeiten, sondern von einem Fühlen ausgeht, das auf der Grundlage des Seins, also der Natur beruht. Denn die ist allen Menschen gemein.)

Erlebt er aber eine Elite, die die Probleme seines Daseinsgefühls eher vermehrt als verringert, die ihm Änderungen seiner Lebensweise zumutet, die er niemals freiwillig gewählt hätte, so erlebt er einen Überbau, den er ablehnt. Und ändert sich nichts, staut sich diese in seinem Lebensbereich nicht umgesetzte Energie in Aggression oder der Bereitschaft dazu. So erodiert erst einmal das Vertrauen, und erhöht sich zweitens die Bereitschaft Menschen zu suchen, von denen er sich diese sein eigenes Leben gelungener ablaufen helfende Normierung erhofft. 

Das kann aus oben genannten Gründen unterschiedlichster Abstraktionsniveaus nur über Simplifizierung ablaufen. Und gerade Revolutionen - von der französischen Revolution bis zum Lutherischen Protestantismus - sind Musterbeispiele gelungener Simplifizierungen. Wo Fragestellungen, die höchstes Abstraktionsniveau verlangen, auf eine Ebene des Alltäglichsten reduziert werden. Was die Fragestellungen selbst aber verfälscht.

Anderseits wird dem heutigen Menschen vorgegaukelt, daß seine Urteilsbildung entscheidende Bedeutung habe. Er wird damit ohne Zweifel dazu getrieben sich Personen unterzuordnen, von denen er die Lösung der Probleme, so wie sie sich ihm in seinem Horizont darstellen, erhofft. Wobei das gar nicht heißen muß, daß er darin automatisch Unrecht hat. Gerade die Frage der Migration ist ein Beispiel dafür, wie abstrakte falsche Entscheidungen sehr rasch im Lebenshorizont des Einzelnen auftauchen, und deshalb tatsächlich bewertbar werden. 

Es ist ja keineswegs so, daß er überhaupt keine Möglichkeit hätte, nach falsch oder richtig zu scheiden, im Gegenteil, und schon gar posthoc. Denn er fühlt ja viele der von der Elite getroffenen Entscheidungen direkt. Er kann allerdings nur selten solche Entscheidungen apriori treffen weil beurteilen, und ihm fehlt jenes Abstraktionsniveau, auf dem Zielbilder formuliert und mit politischen Maßnahmen in Übereinstimmung gebracht werden können. Darin unterscheidet sich dann auch die Qualität einer Führung, denn wo in diesen Fragen Widersprüche zwischen Zielen und Maßnahmen "verkauft" werden, um der Zustimmung im Volk willen, nimmt die Führung dem Volk die Vernunftbasis. 

Abstrakta können und müssen mit dem Vielfältigen und Konkreten immer in einem letzten Punkt übereinstimmen, und darin sind sie jedem Menschen, auch dem einfachsten Dorfdeppen, als Erfahrungsbereich erkennbar. Auch wenn es nicht immer einfach ist, diese Erfahrung wahrzunehmen, in Sprache und Denken zu formulieren. Selbst "Gefühl" braucht Kultiviertheit, und das heißt: Sittlichkeit, um differenziert genug zu sein. Aber sogar die höchsten Abstraktionen - man denke an die Dreifaltigkeit, die sich in denkerisch-abstrakter Dynamik sehr wohl aufweisen läßt - müssen sich im einfachsten Alltäglichen finden können, sie können sonst nicht wahr sein. Gleichzeitig gewinnt der Mensch des Alltags aus derselben Konsequenz dieselben (!) Schemata und Abstrakta, nur erkennt er ihre Durchgängigkeit nicht.

Darin unterschätzt man sogar das Volk sehr häufig und ganz gewaltig. Denn auch in Dingen, die dein Menschen des Alltags in seiner Dimension gewaltig übersteigen (man denke an das Verhalten von Politikern, also politische Vorgänge), kann der wache Blick dieselben Schemata auffinden, die ihn in seinem einfachsten, kleinsten Alltagsgeschäft begleiten. Die Frage ist nur, ob er sich darum zu kümmern hat - eine Frage seiner Maske, seiner Figur sohin.

Darin zeigt sich am eindringlichsten das Versagen der Eliten. Die diese Fragen sehr bewußt nach unten deligieren, anstatt sie zu lösen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Und das heißt: die Folgen zu tragen. Worin sich ein Teil des Elends gewählter Vertreter in der gegenwärtigen Form der Demokratie erkennen läßt, wo Regressmechanismen gar nicht vorhanden sind, und wie beim mißbrauchten Kind dem Volk nachgerade vorgehalten wird, es "habe es ja selber so gewollt". Verantwortung ist von Macht wie Gewalt hier, aber auch von persönlicher Haftung dort nicht zu trennen.





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