Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 17. Dezember 2009

Der ewige Jude

Die "Dolchstoßlegende" - wir vorne waren Helden, die hinten haben uns gemeuchelt - hat 1918f die Befindlichkeit einer ganzen Nation bestimmt. Eine nachweislich falsche Ursachenlegende, die lediglich der Entschuldung der Schuldigen und gleichzeitig bequem der Exkulpierung vom Versagen jedes Einzelnen dienen sollte, hat historisch eine Katharsis einer ganzen historischen Epoche verhindert und sich zur Apokalypse gesteigert.

Dieses Posting, unter einem Artikel der "news.de" zu finden, ist nunmehr exemplarisch für das, was hier gesagt werden soll. Unter einem Artikel, der die 100 Milliarden Neuverschuldung Deutschlands für 2010 behandelt, die als "Krisengeld" ausgegeben werden sollen, schreibt ein ungenannt bleiben sollender Leser:

Ich bin Laie, aber unter der Neuverschuldung von 86 Milliarden kann ich mir schon etwas vorstellen. Ich frage mich. Wer soll der Gläubiger sein? Zu welchem Zinssatz wird es geborgt? Ich, persönlich glaube, wir Deutschen werden richtig verarscht. Ich glaube, die Siegermächte des zweiten Weltkrieges haben uns keinen Friedensvertrag vorgelegt und mit einer dubiosen Regelung, die man als Wiedergutmachung deklarieren kann, kommen sie auch an unser Geld. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Endgläubiger die auch hoch verschuldeten Siegermächte sind. Gottes Wege sind nicht durchschaubar.

Eine Dolchstoßlegende ist also auch hier längst am Entstehen, und sie wuchert. Wie ein unsichtbarer Pilz wächst da etwas heran - diesen Eindruck könnte man gewinnen, betrachtet man viele der Kommentare zur Weltwirtschaftskrise, hört man auf so vieles, was die Menschen auf der Straße reden und denken. Und auch hier: getragen, zumindest mit diesem kräftigen Wind in den Segeln, von kollektivem (und richtigem) Fühlen, keineswegs unschuldig an dieser Krise zu sein. Und so ist es in der Tat. Mit allem Recht, größere wie kleinere Verursacher zu sondieren, aber selbst das - man denke an gebündelte Kleinanlegerinteressen, in Fonds etc. - verschwimmt bis zur Ununterscheidbarkeit.

Eines ist ebenfalls gleich: die Wolke der Blutsauger, die sich ans fiebernde Rind hängen. Politische Bewegungen aller Lager versuchen heute wie damals, solche Gefühlslagen, solche innere Bereitschaften, die als "wohlfeile Auswege" vor der Wirklichkeit nur darauf warten, daß ihnen jemand Darstellung erlaubt und ermöglicht, für ihre Zwecke zu nutzen. Und spielen gefährlich mit altem, niemals kaltem Feuer - dem des Sündenbocks, dem des "ewigen Juden". Für andere sind diese Legenden nützlich, weil sie davon ablenken, daß die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zunehmend auf schiefe Zeilen kamen, daß grundlegende Entwicklungen (Demographie ist ja auch nur Ausdruck) daneben gingen.

Sie alle nützen dieses dumpfe Gefühl im Einzelnen, daß, weil es so viele erfaßt, sogar die Dynamik eines Gruppengefühls erhalten kann, ja hat.  Und solche kollektiven Seelenbewegungen brauchen Sündenböcke, denn sie brauchen unbedingt stellvertretende Sühne, um entschuldend zu wirken. Damals waren es "die Juden". Und heute?

Auch wenn "die Juden" kaum noch zur Verfügung stehen, zu massiv sind die moralischen Ressentimentschranken, oder: höchstens unter vorgehaltener Hand, gleicht der gesamte Überbau aufs Haar. Er nennt sich heute "Kapitalismus", "Großkapital", "die Reichen". Man sucht, und viele Menschen beteiligen sich an der Suche. Öffentliche Foren zeugen von diesem Herumirren der Menschen. Und meist steht simples Unverständnis für die (wie hier) komplexen Vorgänge an der Wiege.

Der Schritt ist winzig, die Grenze dünn wie eine Membrane, sodaß man bereits die Dünste riechen kann, die nach Personalisierung schreien.

Wenn es auch stimmt, daß überall Menschen dahinterstehen, so sind es auch immer Menschen mit dem ganzen Spektrum ihres Handelns und Daseins - in ihren Irrtümern, Schwächen, Dummheiten, Versagen, Lastern und, natürlich, Bosheiten.

Weil es mir gerade in den letzten Tagen nun schon auffallend häufig in Gesprächen wie beim Lesen von Postings in Nachrichtenorganen untergekommen ist, sei der Hinweis auf speziell dieses Kapitel - hier im Blog als Versuch, diese komplexen Sachverhalte möglichst einfach zu erläutern, zu finden - erneuert: Wo Menschen sich einfach nicht vorstellen können, daß dort, wo jemand Geld verliert, nicht jemand steht, der es einsteckt. Weil sich "Geldvermehrung" oder "Geldvernichtung" dem einfachen Verstehen entziehen. Weil heutige Wirtschaftszusammenhänge, in denen wir täglich stecken, hoch komplex sind. Im besonderen deshalb gewidmet: L, Z und R, die mich unabhängig voneinander um diesen Dienst gebeten haben.




*171209*