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Freitag, 17. Oktober 2014

Auf abschüssiger Bahn rutscht alles bergab

Wie Dominosteine fällt allmählich ein Kulturgut nach dem anderen, und die Logik mit der dies geschieht ist nahezu zwingend. Fehlen die Fundamente, ist unser Kulturhaus falsch gegründet, ist bald nichts mehr haltbar. Nun hat der deutsche Ethikrat die Freigabe von inzestuösen (Geschwister-)Beziehungen zur Aufhebung empfohlen. Derzeit ist das Inzestverbot noch durch das Strafrecht abgesichert. Die eigentlichen Einhakpunkte, Argumente finden sich im entsprechenden Artikel der FAZ aber nur in Nebensätzen, oder bleiben ungeschrieben. Und mindestens genauso erschreckend ist die Unfähigkeit der Politik, darauf fundiert einzugehen.

Wenn nämlich der Ethikrat meint, es sei nicht zulässig, eine abstrakte kulturelle Form - außerfamiliäre "Liebe" - zu schützen, dann zeigt sich weit mehr als eine partielle Verirrung, vielleicht noch in irgendwelchen Moralismen verankert, deren Begründungen quasi heute längst alle weggefallen sind.

Weggefallen, weil sich mit Utilitarismen, mit Biologismen (die wiederum auf Utilitarismen reduzierte Kausalzusammenhänge sind) keine Kultur begründen wie aufrechthalten kann. Denn natürlich ist das Argument, daß sich aus Inzest höhere Wahrscheinlichkeit für Mißbildungen ergeben, kein wirkliches Argument. Wer es bislang darauf reduziert, verkannte die Sache genauso, wie der Ethikrat - die Spitze des Eisbergs gesellschaftlicher Strömungen - wenn er argumentiert, daß sich im Zeitalter der pränatalen Diagnostik Empfängnis und Schwangerschaft nicht darauf einschränken ließe. Klartext: Unter der Erlaubnis, mißgebildete Kinder abzutreiben, sind auch solche Betriebsunfälle nur noch unbedeutende Fehler, die sich beseitigen lassen. Auch Mukoviszidose ist ja vererbbar, und entsprechend diagnostizierter Nachwuchs im Mutterbauch problemlos zu entsorgen. Ja, es stimmt, Genetik ist kein Argument.

Aber genauso wenig ist es eine Rechtsordnung, die das Strafrecht nur in momentaner Sitte verankert sehen will. Im Recht gibt sich ein Volk, ein Staat nämlich, nicht einfach die Sanktionierung seiner momentanen Lebensordnung, sondern die kulturschaffende Funktion des Rechts, deshalb die kulturelle Höhe einer abstrakten, formulierten Rechtsordnung überhaupt, zeigt sich genau darin, daß es gerade Normen festlegt, die zwar im Alltäglichen durchaus einmal gebrochen werden, die aber der Entfaltung des Menschen entgegenstehen. Wir befinden uns also in einem grundlegenden Streit der Anthropologien!

Das Argument gegen den Inzest ist nämlich anthropologisch verankert, und nur dort hält es: in Gesamtbetrachtung des Menschen und des Sinns seiner Existenz selbst. Wir stehen also vor den Trümmern einer Anthropologie, die selbst bereits Folge eines Verfalls ist. Deshalb ist es eines der historischen Zeichen einer gewissen kulturellen Höhe auch der Einzelnen eines Volkes, wenn der Inzest tabuisiert, verboten, dem Zufälligen momentaner Gefühle (die noch dazu von Minute zu Minute schwanken, schwächer, stärker sind) entrissen ist. Dies mit "biologischen Überlebensvorteilen" zu argumentieren, wie heute als fatale Folge des darwinistischen Kurzschlusses allgemeine Lesart geworden ist, entstammt selbst bereits der Dekadenz. In dem der englische Krämergeist aus Nutzen & Vorteil sich als Lebenshaltung auch zur Grundstruktur des Denkens entfaltet hat.

Die Aufgabe, der Sinn des Menschen ist, sich die Welt geistig anzueignen, was so viel heißt wie: weiter werden, immer weiter, bis er eben die ganze Welt in sich trägt. Und dazu ist die Sexualität in besonderer Weise Stufe. Denn in der Ergänzung durch das andere Geschlecht, in der jeder Mensch ganz zu sich kommt, bis in seine tiefsten Winkel hinein, ist es ein hohes kulturelles Gut, inzestuöse Bindungen zu verbieten, weil sich so die Selbstwerdung logisch beschränkt. Weil es nicht ins Fremde, Andere hinausgeht, sondern im Gleichen, in weit höherem Maß in sich selbst bleibt. Das betrifft insbesonders Inzestverbindungen von Eltern und ihren Kindern. Auch die übrigens scheint der deutsche Ethikrat nicht auszuschließen, er habe sich, so die FAZ, dazu nicht geäußert. Und es wäre ja nur logisch, wenn es nichts "Abstraktes" mehr zu verteidigen gilt. Erbschäden sind aber nur noch eine sekundäre Folge davon, weisen nur darauf hin, sind nicht das primäre Problem, das es zu vermeiden gilt.

Es geht um das Weiterwerden. Wird Inzest unter Geschwistern (und die Einschränkung auf "Erwachsene" macht gar nichts mehr besser daran) freigegeben, fehlt bereits der kindlichen und jugendlichen Erziehung das Ziel - das HINAUS, das FORT, das IN DIE WELT - und damit die entscheidende Grundlinie jeder Erziehung. Nur aus diesem Hinaus aber entsteht Kultur, ja - entsteht überhaupt Welt. Insofern trifft sich der Inzest in direkter Linie etwa mit der Haltung zur Homosexualität. Und auch Mißbrauch, über den sich so scheinheilig alle entrüsten, nach wie vor, ist unter dieser Argumentation nicht haltbar. Die Zeiten dämmern bereits, in denen er auch offiziell zur Norm wird. Inoffiziell ist er es ohnehin bereits.

Deshalb ist auch "Liebe" kein Argument, an deren Unerfülltheit Geschwister eventuell leiden würden. Denn die Liebe, selbst wenn zu ihrem Wesen gehört, daß sie "passiert", ist nicht etwas, das einfach passiv hinzunehmen ist. Sie ist in der menschlichen Form eine "abstrakte" Kulturleistung, die es zu erlernen, in die es hineinzuwachsen gilt. Am anderen, an der "Feindesliebe". Sie ist ein Werk, in der sich der Mensch zur Geistigkeit hebt. So baut die Ehe also Kultur im Kleinsten beginnend auf. Das Ziel der Ehe geht über die bloße (utilitaristische) "Dauerhaftigkeit" ja weit hinaus, wie an dieser Stelle bereits betont wurde. Sonst wären Schwäne die besseren Menschen.

Daß jede Weltwerdung, jede Schöpfung Schmerzen kostet, Geburtsschmerzen, ist in ihrem Wesen bedingt. Jede Werdung, alles Neue, braucht ein gewisses Maß an Gewalt und Schmerz. Sonst wird nichts Neues. Zu jammern also, daß es an Innovationen fehlt, ist in dieser Kulturstimmung, in der wir uns offenbar bereits befinden, einfach nur noch lächerlich. Es kann gar nicht anders kommen, eines hängt mit dem anderen zusammen. 

Wenn wir heute schon in allem nur noch Schmerzvermeidung suchen und das gar als ethisches Gebot hochhalten, werden wir mit völliger Sicherheit nur noch eines erreichen: Das Zurücksinken auf eine Stufe der Primitivität, der Kulturlosigkeit, die nämlich "abstrakt" ist, was sonst, weil geistig, die wir noch vor fünfzig Jahren mit Entsetzen quittiert hätten. In die unsere heutige "Normalität" aber nach und nach bereits hineingeschlittert ist.



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