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Dienstag, 7. Oktober 2014

Fehldeutung

Man redet gerne davon, daß sich die Menschen doch so unvorsichtig im Netz darstellten. So würden sie überwacht und überwachbar, weil im Netz alles sichtbar würde und bliebe. Und wundert sich zugleich über die "Unvorsichtigkeit" so vieler, gerader junger Menschen, so viel von sich preiszugeben. An welchem Verhalten auch noch so groß angelegte Aufklärung seltsamerweise nichts ändert. Man denke doch alleine an die NSA, an die Überwachungsskandale der letzten Jahre.

Herrschaften, jede Aufklärung dahingehend ist umsonst. Weil sie dem Wesen des Internet widerspricht. Es ist nicht so, daß den Menschen Offenheiten "passieren", die sie später bereuen. Selbst wenn sie es einmal tatsächlich bereuen sollten, was aber nur hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit begreifen lassen kann, so riskieren sie das gerne. Denn die Menschen WOLLEN gesehen werden, das steckt hinter dem Internet und den social media. Sie WOLLEN beobachtet und ernstgenommen werden! Sie WOLLEN in der anonymen Maschine, als die die heutige Welt erfahren wird, endlich als sie selbst - und das heißt: als Darstellung ihrer selbst - wahrgenommen werden. Und wenn von Liebe die Rede ist: Sie wollen gewollt werden, weil sie sich im Leben nicht mehr als gewollt erfahren.* Wer sich im Netz darstellt, will, daß auf ihn reagiert wird, der will wissen, wie er ist. Und das kann ihm nur ... die Welt sagen.**

Wenn also eine Kultur sich auflöst, keine Identität mehr zu stiften vermag, läßt sie ihre Mitglieder in einem unbestimmten Zustand zurück. In dem aber niemand leben kann, denn alles menschliche Tun und Handeln ist immer ein "Handeln als jemand" und in einer bestimmten, definierbaren, historischen Situation. Die Täuschung des Funktionalismus besteht ja darin, darauf aufzubauen, daß die Welt auf bloße neutrale, "objektive" Vorgänge real umzubrechen wäre. Aber Funktion ist nie aus der geschichtlichen Situation und Ebene eines Dings der Welt ablösbar. Sie ist immer Kommunikation von Wesenheiten, die zueinander in dialogischem Verhältnis stehen. Wer das nicht sieht, nimmt die Welt als Maschine wahr, die außerhalb von ihm steht, und in die er eingebunden zu sein sich mühen muß, die ihn aber jederzeit wieder ausspucken kann.***

Das Internet/social media würde schlagartig wie ein ausgelassener Luftballon zusammenfallen,  wenn jede Äußerung, jeder Akt der Selbstdarstellung nur noch adressatengebunden und adressatenintim wäre. Selbst die Beschränkung auf spezielle Foren oder Öffentlichkeitsadressen wie Blogs könnten das Grundbedürfnis nach Beachtung, nach wahrnehmbarer Liebe, nach Selbsterkenntnis und -erfahrung, das hinter dem Netz steckt, niemals kompensieren. Denn Wahrnehmung ist eine schöpferische Leistung, die eben mit Wahrheit und damit mit Tugend zu tun hat. Sie ist nicht einfach etwas, das es der Welt wie durch einen Temperaturfühler "empirisch" abzulesen gäbe. Sie ist eine menschliche Bringschuld.

Und hier läßt sich der Selbstdarstellungssucht der Gegenwart sogar ein interessanter Aspekt abgewinnen. Denn das Handeln der Menschen ist immer irgendwie wahr. Wenn auch oft ganz anders, und auf anderen Ebenen, als sie selbst meinen. Man muß es aber zu lesen lernen.



*Was nicht heißt, daß sie nicht mehr gewollt und geliebt würden - von Gott, dem Sein, das sie immer birgt, so verquer ihr Leben auch sein mag. Sondern sie nehmen die Welt nicht mehr als getragen von der Wahrheit wahr.

**Es wäre aber eine nächste Fehldeutung, die psychische Situation wie sie hier beschrieben ist, auf Nutzer des Internet/social media beschränkt zu glauben. Es ist vielmehr nur EINE ART der Äußerung. Ja, vielfach ist sogar zu beobachten, daß Kritiker des Internets/der social media GENAU DIESELBE Ersatzhandlung, nur auf anderem Weg suchen. Gäbe es also das Internet nicht, so würde es sich anders ausdrücken bzw. drückt sich in andere Konnkretionen hinein aus. Formwille verwendet dann nur anderes Material. Aber der fulminante Siegeszug des Internet ist zu einem großen Teil auf diese seelische Situation zurückzuführen.

***Auch dahinter, übrigens, steht eine tiefe Wahrheit, wenn auch auf anderer Ebene. Aber dieses "Selbstgefühl" ist ein Analogon zur tiefsten Ontologie der Welt - die sich als so frühes Prinzip von allem Seienden natürlich in alle differenzierteren Ebenen mit hineinträgt, sich dort aber in der Sprache und Weise und Gestalt der jeweiligen Ebene äußert -, in der alles ins Nichts fällt, das nicht am Sein teilhat. In diesem Fall äußert sich also die Ferne von Gott, die auf der psychologischen bzw. allein zugänglichen Ebene "so und so" kompensiert werden soll.




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