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Samstag, 18. Oktober 2014

Ungebildete Wissensgesellschaft

Mit Bildung, schreibt Konrad Paul Liessmann in "Theorie der Unbildung", hat das Wissen der Wissensgesellschaft rein gar nichts mehr zu tun. Vielmehr wird Wissen utilitaristisch verstanden, und damit reinen Zweckbedingungen unterworfen. Nur, wo Wissen auch anwendbar ist und Nutzen bringt, wird es toleriert, dort wo es sich zur "Information" reeduziert. Aber was unterscheidet den heutigen "Wissenden" vom bloßen Produzenten früherer Epochen, dessen Tätigkeit so selbstverständlich genommen wird, daß er - wie früher die Bauern - nicht einmal als Stand (sondern nur als amorphe, anonyme Masse) gezählt wird?

Bildung geht nicht auf gewußte inhaltliche Details. Sie geht nach dem Warum, nach dem Erfassen von Zusammenhängen und Ursachen, damit nach den Grundlagen der Kultur in der wir leben, und damit im letzten nach der Grundfrage des Menschen, dem Sinn der Existenz. Sie ist kein Anwendungswissen, das sich übernehmen ließe, wie man Kleider anzieht, sodaß der am gebildetsten ist, der möglichst viele Wissensteile wie aus einem Ersatzteillager assembliert. Und auch und schon gar nicht der, von dem es heute heißt, er wisse, wo er Wissen abfragen könne - im Internet, bei Wikipedia, oder in Bibliotheken. 

Die eigentliche Leistung der Bildung muß von jedem selbst erbracht werden, und sie besteht nicht im Ansammeln von Gewußtem, sondern im Verstehen der Untergründe. Deshalb hat Bildung auch eine klare Hierarchie des Wissenswerten. Wer sich in unbedeutendem Wissen verliert, die Rangordnung des von ihm Gewußten im Rahmen der menschlichen Existenz nicht mehr einschätzen kann, lebt in der dringenden Gefahr, den Boden zu verlieren, der ihm ein Ordnung des Gewußten oder Wissenswerten, eine Einschätzung des daran Bedeutenden und Unbedeutenden, überhaupt erst ermöglicht.

Zugleich aber muß man sehen, daß der recht verstandene Bildungsbegriff sehr wohl zu einem gewissen Kanon des Gewußten führen muß. Denn die Pädagogik der Gegenwart tut in einem panischen Umkehrschluß so, als wäre Bildung ein rein formales, technisches Geschehen. Aber jede Bildung kann sich nur auf Konkretes beziehen. Nimmt man dieses Konkrete - so, als müßte man gar nichts mehr im Gedächtnis halten, nichs mehr an Wissen parat haben - so stürzt die Bildung völlig ins Nichts und wird gar nicht zu Bildung, sondern zur bloßen Anwendungsmechanik von vorgeblich Gewußtem. Bildung heißt nämlich, Gewußtes abwägen und bewerten zu können. Dazu aber muß man etwas ... wissen.* Bildung ohne Wahrheit und Wahrheitsbegriff ist deshalb sinnlos. Nur der solcherart in den Grundfesten stabile Mensch vermag auch auf Distanz zum Zeitgeist zu gehen, weil er dessen Relativität erkennen kann. Schule ohne Vergangenheitszugewandtheit, die stattdessen meint gegenwartstauglich (als Verhalten, im Ungang) machen zu sollen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt.**

Dagegen aber steht der fatale Irrglaube (der selbst aber bereits Folge viel tieferer Ursachen  ist), die Steigerung des heute ungeordnet "Gewußten" würde auch eine Steigerung der Vernunft der Menschen mit sich bringen. Der Prozentsatz der Menschen, die nach den logischen Kriterien der Wissenschaft selbst denken (und denken können), ist nämlich extrem niedrig. Und er wird auch durch Akademikerquoten nicht erhöht, wenn wie heute Universitätsausbildung immer mehr nur noch heißt, Gewußtes "gleichzuschalten", sodaß Akademiker wird, der sein Denken dem vorgeblich Gewußten angleicht. Mit Nietzsche läßt sich deshalb sagen, daß unsere Schulen und Universitäten sich in "Anstalten der Lebensnoth" gewandelt haben, die im Gegensatz zu den zweckfreien, gerade nicht "aktualitätszugewandten" Stätten der Bildung - als Muße! - stehen. Und sie muß zuallererst Stätte der Muttersprache, der Sprache, des Umgangs mit der Sprache sein.  Denn in der Sprache stecken auch alle Beziehungen zu den Gegenständen der Welt, ihr gilt es sich zuallererst UNTERZUORDNEN. (Nicht, wie im Genderwahn, sie zurechtzubiegen.)*** Denn sie ist das Spiegelbild der Entwicklung einer Kultur.

Noch einen Irrtum widerlegt Liessmann. Den, wo man meine, Wissen (im heutigen Sinn) würde auch das kulturelle Niveau heben und die Art der Gesellschaftsform bestimmen. Das hieße zu übersehen, daß sich Wissensgesellschaften in allen bislang bekannten Gesellschaftsformen herausgebildet haben, im liberalen Amerika genauso wie im nationalsozialistischen Deutschland, dem kommunistischen Rußland oder dem totalitären China. Wissensgesellschaften heutiger Prägung sind also gesellschaftspolitisch "neutral", Diener jedes Herren. Aus ihnen läßt sich nichts ablesen, das sich als Ethos oder gesteigerte Moral definieren ließe. Schon das sollte zu denken geben.

Im übrigen ist die Unwissenheit der breiten Bevölkerung heute um nichts geringer als im so gerne geringgeschätzten Mittelalter. Deren Leben sich auf Anwendung beschränkt. Wer mit einem iPhone umgeht, hat in der Regel absolut keine Ahnung, was sich im Inneren seines Gerätes (oder der hochtenisierten Einrichtungen, mit denen er im Alltag zu tun hat) abspielt, nicht anders als der mittelalterliche Bauer bei seinen einfachen Maschinen. Das tägliche Tun bleibt irrational und dumpfe, fast magisch zu nennende Anwendung.



*Genau hier hinterläßt auch der Liessmann'sche Bildungsbegriff eine Lücke, die er bestenfalls durch fast zufälligen Pragmatismus überbrücken kann. Es ist kein Zufall, daß Liessmann das Hegel'sche (immanentistische, historizistische) Konzept von Geist hervorhebt. Das macht ihn zwar zum guten Polemiker, aber letztlich nicht überzeugend, weil er den Ort, von dem aus er kritisiert, selbst nicht verankern kann. 
Aber alles Gewußte ist letztlich ein für wahr Gehaltenes, ein Geglaubtes - man "weiß" (rational) nicht, sondern man glaubt in einem vorgängigen Akt, daß etwas gewiß sei. Die Begegnung mit der Wahrheit aber ist ein personaler Akt, ein Akt des Annehmens und Vertrauens, kein Resultat logischer Operationen. Eher einem Licht vergleichbar, als einem Denkprozeß. Auch Logik kommt ohne eine solcherart fundierte personale Wahrheit, als sittlichem Akt, nicht aus. Eine Gesellschaft, die auf einen personalen Gott also verzichten zu können meint, fällt unweigerlich in sehr handfeste Dummheit. Und ihre Wissenschaft kann gar nicht anders enden als im immer engeren Pragmatismus. 
Wer die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft nicht aus dem Katholizismus heraus begreift, versteht deshalb auch die Wissenschaft falsch, schätzt die Wende zur Moderne (ab dem 16. Jhd.) falsch und singulär ein. Und DAS begründet die richtige Feststellung Liessmann's, daß Bildung heute gar nicht gelingen DARF, weil sich sonst ihr Ungenügen zur Weltdurchdringung offensichtlich machen würde. Die Bildungsmanöver der Gegenwart sind deshalb großangelegte Selbstbetrugsmanöver.

**Darin liegt der Sinn des Studiums der Antike und ihrer Sprachen, hier läßt sich tatsächlich an das humanistische Bildungsideal anschließen. Wer sich mit der Antike eingehender beschäftigt, die uns doch so umfangreich vorliegt, wird wenigstens den Wahn verlieren, daß unsere Zeit alles anders und besser mache. Aber dieses Studium der Alten läßt sich nur exemplarisch vollführen, am Konkreten also, das es damit im Gedächtnis zu wissen gilt. Es gibt Bildung also nicht ohne Wissen, nur ins Gewußte hinein wie aus diesem heraus kann sich Geist, als personale Bewegung der Freiheit, entfalten.

***Karl Kraus geht sogar so weit zu sagen, daß wenn aus dem Deutschunterricht der Schulen nicht Ekel vor dem Journalismus bzw. seiner Sprache erwächst, war er auf jeden Fall umsonst.




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