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Sonntag, 13. September 2020

Nichts ist objektiver als Geschmack

Es kennzeichnet unsere Epoche, daß diese eigentümliche Mischung aus Herablassung gegenüber den Manieren und verstohlener Neugier, wie sie die Jahre nach der Französischen Revolution hervorbrachte, die öffentliche Atmosphäre wieder bestimmt. 

Die politischen Rupturen waren in Deutschland so stark, daß man sich als Deutscher offenbar nicht vorstellen konnte, es gebe Regionen in Europa, die von diesen Brüchen und Erschütterungen verschont geblieben sein könnten. Seitdem die Deutschen sich in wachsendem Maße vertraut in Europa bewegen, haben sie, zum Teil mit nicht geringem Erstaunen, feststellen dürfen, daß die Welt der Manieren, die in Deutschland so gründlich untergegangen zu sein schien, in den Nachbarländern keineswegs obsolet geworden ist. 

Sind diese Länder rückständiger als Deutschland? Mancher ist sich da sicher, daß die verschiedenen Umstürze in Deutschland neben großem Schaden auch großen Fortschritt gegenüber den anderen europäischen Ländern gebracht haben. 
Wer nun für die Einführung der Gleichheit in Deutschland ursächlich verantwortlich zu machen ist (Napoleon, die Weimarer Verfassung, Hitler, die Kommunisten, die amerikanische re-education stehen zur Auswahl): man kann sagen, daß er oder sie Erfolg mit ihrem Programm gehabt haben.
So gilt es zunächst festzustellen: 
Eine Instanz, die in Deutschland den berechtigten Anspruch erheben dürfte, eine Aussage über die Manieren zu machen, gibt es nicht mehr. Manieren haben autoritären Charakter. Sie entziehen sich der Diskussion.
"Über Geschmack läßt sich nicht streiten" gehört zu den vielen Zitaten aus der Antike, denen aus Unkenntnis ihres Zusammenhanges ein falscher Sinn unterlegt worden ist. 
Man kann über Geschmack nicht etwa nicht streiten, weil er Privatsache ist und im Belieben des Individuums liegt, sondern weil es nur einen einzigen guten Geschmack gibt, der aber ist Axiom. Wer ihn in Frage stellt, zeigt nur, daß er diesen axiomatischen Charakter nicht verstanden hat und sich auf der Ebene der Rationalität mit dem Geschmack beschäftigt, anstatt auf der einzig angemessenen, der des halb vegetativen, selbstverständlichen Vollzugs.
Die großen Lehrer der Manieren haben sich deshalb zu allen Zeiten niemals als Gesetzgeber verstanden, sondern als Deuter und Interpreten eines bereits vorliegenden, nach ihrer Vorstellung immer schon vorhanden gewesenen Korpus von Regeln, das mit anderen Grundsätzen aus der Kunst, der Philosophie und der Religion in Harmonie stand und noch in der kleinsten Geste mit dem Gesetz des ganzen Kosmos verbunden war. 
Die dem eigenen Stande angemessenen Manieren wiesen dem einzelnen seinen Platz in diesem Kosmos zu und machten ihn dadurch überhaupt erst zum Menschen. Erzogen werden, Manieren annehmen, das waren Menschwerdungsakte. 
An erster Stelle vermittelte die Familie die Manieren. In der Familie fand das Kind die ganze Welt beispielhaft abgebildet: Gottes Barmherzigkeit in der Mutter, Gottes Gerechtigkeit im Vater verkörpert, Vater und Mutter als König und Königin, Mann und Frau in beispielhafter Weise. Die Eltern waren durch ihren Stand geformt, eine kollektive Formung, die schon deswegen nicht bezweifelt werden konnte, weil niemand daran dachte, seinen Stand zu verlassen. 

Asserate Asfa-Wossen in "Manieren"



*010920*