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Mittwoch, 30. September 2020

Geschichten aus Sopron und Ödenburg (1)

(Der Artikel wurde am 29. September überarbeitet und ergänzt. Aber auch wenn sein Corpus vom 2. September 2020 stammt, muß dreißig Tage danach nichts geändert werden, alles gilt nach wie vor: Die Situation in Sopron/Ödenburg ist quasi unverändert. Und daß sich die offizielle Situation der faktischen Grenzsperre - noch mehr aber die der Verwirrung - auch im Oktober nicht ändern will, daran zweifelt niemand hier im Ungarland.)

Wir sind am zweiten Tag der neuerlichen Grenzsperre von Ungarn durch Sopron gegangen. Wie immer führte unser Weg zu den kleinen Geschäften, den Handwerkern, den Läden, in denen mal dies, mal das überraschend oder gewohnt angeboten wird. Sicher nicht, weil wir so viel Geld haben, die höheren Preise, die man diesen kleinen Läden nachsagt (der VdZ sagt: Das stimmt nicht, und das hat noch nie gestimmt, man kauft bei kleinen Läden nicht teurer, vielmehr anders und vor allem besser, weil als Teil des Lebens viel umfassender) so einfach zu zahlen. Sondern weil man dort Begegnungen hat, die man mit keiner Kassiererin beim Lebensmittelmarkt oder mit keinem der gelangweilt herumstehenden Hilfsarbeiter beim Baumarkt erleben kann. 

Neuerlich leidet Sopron, das deutsche Ödenburg, schwer durch den Verlust des Hinterlandes. Nach 1921, nach 1946, erlebte die Stadt in den letzten Jahrzehnten einen hoffnungsvollen Neuanfang, der heuer zum zweiten Mal einen schweren Rückschlag erfährt. Die schöne Stadt mit ihren 65.000 Einwohnern ist von der internationalen Politik extrem verletzbar, denn sie war und ist nach dem Westen ausgerichtet. Das war nie anders. Wie der Kopf von Ungarn, so wirkte sie fast in der Geschichte, das war sie auch über lange Zeit, zwei Könige wurden hier - und nicht in Preßburg (Pozsonyi) oder Budapest - gekrönt, und von hier ging die Befreiung des restlichen Landes aus. 

Bei der Schneiderin wandert der Rock gleich vom Empfangstresen an die Maschine. Es gibt keine Arbeit, und obwohl wir abwiegeln, es dränge nicht, wird die Fertigstellung der Änderungen in zwei Stunden angekündigt. Fehlen die Österreicher, fehlen die Kunden. Die Antiquitätenhändlerin nebenan, vielleicht sechzig Jahre alt, nicht mehr lange zur Pension, die ihr ganzes Erwachsenenleben mit ihren alten Sachen zubrachte, die sie auftrieb und in ihrem winzigen Laden an ihre Kunden verkaufte, seufzt vielsagend. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Noch einmal wird sie drei Monate Dürre nicht aushalten. Was sie sonst tun soll, weiß sie aber nicht. 

Ähnlich der Spezialitätenhändlerin, wie wir sie nennen. Die ihre Lieferanten in ganz Westungarn hat und alle möglichen Spezereien anbietet, die nur Österreicher begehren. Denn kein Heimischer kauft hier. Sopron wird nach dem Aderlaß, der die Stadt ihre gesamte Mittelschicht gekostet hat, also all die kleinen Weinbauern, all die vielen Handwerker und Kleinhändler, die ihre Häuser verlassen mußten, die noch heute ihre Geschichten erzählen, auch wenn sie meist in furchtbarem Zustand sind. 

Seither wird die Stadt (auch wenn das heutige Soproner nicht gerne hören und vehement bestreiten) von gräßlichem Kleinbürgergeist beherrscht. Der eben kein Geist sondern ein Ungeist ist. Neid, Mißgunst und Dummheit herrschen. Die wirklichen Bürgerschichten, das Großbürgertum, dessen sich Sopron mit Tafeln, auf denen steht "Hier konzertierte am ... Ferenc Liszt!" oder "...Josef Haydn" so gerne rühmt, fehlen. 

Die Juden, 1944 waren es rund 1800, vor allem in der Altstadt wohnhaft, wurden Ende 1944 in einem Aufwaschen nach Auschwitz geschickt. Und die Deutschen hat man 1946 expatriert. Offiziell waren es 12.000 "Schwobn", die man gen Deutschland verjagt hat. Dabei waren die seit Jahrhunderten hier ansässig. "Alles Nazis!" meinten die Kommunisten, und so hat man sich dieser lästigen Schichte reaktionärer, weil oft sogar noch königstreuer Mittelständler entledigt. In der sozialen Struktur der Stadt klaffte fortan ein riesiges Loch, bis heute.

Inoffiziell waren es zwar eh nur zehntausend Schwobn, wie man beim Kaffee erzählt. Drei Tage standen die Züge am Bahnhof, weil die Russen die Lokomotiven woanders brauchten. Und die Leute haben es sich in Ungarn immer ein bissel gerichtet. Viele sind getürmt und haben sich irgendwo versteckt bzw. wurden versteckt. Freilich - besitzlos, und zu allem gezwungen, mit dem sie sich über Wasser halten konnten. Das waren vor allem auch die, die halt eh "ungarisch waren". Die Namen aller waren ohnehin längst magyarisiert. 

Und das Volk ist halt nie so gemein und bös', wie die Verwaltung es verlangt (aber manchmal freilich auch viel böser.) So aber hat die Stadt binnen zweier Jahre ihre gesamte Mittelschicht verloren. 

Selbst wer dablieb war (enteignet, manchmal sogar jahrelang zum U-Boot verurteilt) aus seinem Stand hinausgeschossen, und mußte als Kohlenschaufler oder Hilfsarbeiter weiterleben, manchmal in denselben Häusern, die zuvor ihm gehört hatten, nun aber als Gäste. 

So kam es auch, daß niemand mehr Wein machen konnte, niemand in ganz Sopron! Die Reben verdorrten im Herbst. So holte man aus ganz Ungarn Fachleute, die die neuen Besitzer in Schnellsiedekursen einschulten. Die Folge war, daß man bis vor zehn, fünfzehn Jahren keinen Qualitätswein mehr herzustellen vermochte, und die Bevölkerung sich an so manchen "Heckenklescher" einfach gewöhnte. Was sich mittlerweile freilich geändert hat. Heute gibt es sehr gute, ja so richtig gute Weine, versprochen ;-) !

Kaum einer aber, der hier lebt und nicht irgendwo in seiner Vergangenheit Deutsche, "Schwobn" in der Ahnenlinie hat, sich auf Einwanderer in früheren Jahrhunderten zurückführt. Die stets als extrem anpassungsfähig beschrieben wurden, und mit ihrem Herkommen sofort eine Treueerklärung dem König gegenüber abgegeben haben, und das auch mußten. 

Aber jetzt ist es so ohne Hoffnung, die Frau im Laden ist äußerst niedergeschlagen, wie so viele andere, die wir heute treffen. Und bedankt sich gezählte fünfmal, daß wir immer wieder bei ihr kaufen, trotz allem, und trotz der bescheuerten Corona-Krise. In deren Ursache und Wesenseinschätzung wir ziemlich übereinstimmen. Nur beim Erwähnen des Namens Orban wird sie schlagartig schweigsam, sie glaubt wohl auch und noch immer an den Wunderwuzzi.

Da paßt auch die seltsame Verschwörungstheorie, die wir auch in einem anderen Geschäft durchhören, und der gemäß es nur an den österreichischen Zeitungen liegen solle, daß keine Kunden aus dem Nachbarland mehr kämen: Die seien absichtlich falsch informiert, als Teil eines Kampfes gegen ... Orban und das durch ihn (das stimmt jedenfalls) neu selbstbewußter gewordene Ungarn. (Was die Ungarn im Ausland - erstmals in der Geschichte! - anders sehen, die auf das Herkunftsland voller Abscheu herabschauen, aber das ist eine andere Geschichte.)

Einschub: Nun, eine abgemildertere Form von Verschwörungstheorie behauptet hartnäckig und bis Ende September (wider alle Erfahrung!), daß die Grenzsperren überhaupt nicht gälten. Oder nur für jene, die nach Ungarn einreisen wollten und weiter als 30 Kilometer von der Grenze ihr Ziel hätten. Und in diesem Bereich gibt es, wie der VdZ von verschiedensten Stellen zu hören bekam, zahlreiche "Varianten". Letztlich - persönlich und wörtlich von Grenzbeamten so gehört! - weiß niemand wirklich, was des Gesetzes Wille ist. Und die meisten halten sie sowieso für schwachsinnig und verwirrend. 

Einmal "geht alles", dann wieder werden Autos nur deshalb zurückgewiesen, weil sie ein Wiener Kennzeichen ("mehr als 30 Kilometer") haben. Der "sicherste" Tip: Besorge sich der Einreisewillige ein Schriftstück, eine "Vorladung" oder ein Attest von einem ungarischen Arzt, demgemäß er in ärztlicher Behandlung (manchmal kann auch "Zahnarzt" reichen) stehe, und an diesem und jenem Tag (oder -n Tagen) zu einem Behandlungstermin einreisen müsse. Nach Sopron, auf keinen Fall aber weiter als 30 Kilometer von der Grenze weg! 

Tatsache ist auch gemäß ungarischen Zeitungen, daß Österreicher seit 1. September nicht mehr wie früher herkommen können. Tatsache ist, daß ein Tagestourist nicht mehr wie noch vorige Woche einfach einreisen kann. Nicht als Tourist. Als Geschäftsmann unter bestimmten Bedingungen, als Pendler, wenn er sich nicht mehr als 30 Kilometer von der Grenze entfernt, als Patient, wenn er die Notwendigkeit einer Behandlung nachweisen kann. 

Einschub und Nachtrag: Die Regeln sind wie mittlerweile fast alle "Maßnahmen" zur angeblichen Bekämpfung der Coronakrise - keineswegs nur in Ungarn, sondern in ganz Europa - schlicht und ergreifend verwirrend. Niemand weiß nix, so ungefähr, und letztlich hängt bis zum heutigen Tag die Einreise nach Ungarn mehr oder weniger von der Willkür des jeweiligen Grenzbeamten (sic!) ab. Weshalb das Gesetz gilt, daß besser "alles" an "Vorsicht" gepflegt wird, das einem einfällt, als gar nix. Denn eines ist fix: Die Strafen können jederzeit und in ungeheurer Höhe zuschlagen.

Nicht einmal die Grenzbeamten sind aber autark in ihrer Entscheidungskraft. Sie haben - auch das: Persönliche Erfahrung! - Angst vor der Inlandspolizei. "Was passiert," so ein Grenzsoldat zum VdZ, "wenn die Polizei Ihr Auto aufhält? Deutsches Kennzeichen - Warum sind Sie in Ungarn? Und Sie haben nichts vorzuweisen? Dann kommen wir an der Grenze in Schwierigkeiten!"

Aber da gehört auf keinen Fall dazu, einen Bummel durch die Altstadt zu machen und einkaufen zu wollen. Sogar Ungarn werden unter 14-tägige Quarantäne gestellt werden, wenn sie ihre Heimat aufsuchen.

Es bleibt also, daß es diesmal deutlicher als im März dieses Jahres, auf den sich alle zurückgeschossen fühlen, Orban war, der sie und alle hier wieder einmal vor die Frage stellt, wie es weitergehen soll. Noch einmal wird die Spezialitätenhändlerin drei Monate ohne österreichische Kunden nicht aushalten. Was aber sonst machen? Irgendwo arbeiten? Unmöglich. Als was? Was tun? Sie ist seit Jahrzehnten selbständig!

Nirgendwo klingt das Lied anders. Es ist wirklich deprimierend. Und es droht ein Verlust an Lebensqualität, das ist uns sofort klar, das ist der eigentliche Schaden durch den Corona-Wahn. 

Alle Photos R - Demo in Sopron am 08.09.2020
Einschub: Das hat schon mehrfach zu Protestaktionen - Demonstrationen! - in Sopron und anderen Städten geführt, die letztlich von Österreichern (und Deutschen bzw. Ausländern) leben, buchstäblich. Der VdZ hat am 8. September an einer solchen Demonstration selbst teilgenommen, die in Sopron stattfand, und zu der sich erstaunliche 1.000 Menschen (für eine Stadt mit 65.000 Einwohnern nicht gerade wenig) einfanden. Drei Stunden (und mehr) standen sie, und hörten verschiedenste Redner ihr Leid klagen. Immer wieder brandete Applaus, immer wieder formierten sich Sprechchöre, daß es genug sei. Und daß Einigkeit wichtig sei, um zu zeigen, daß das so nicht weitergehe. 

Besonders die tausenden Pendler sind Leidtragende. Und wer die Landstraßen ab vier, fünf Uhr morgens beobachtet, sieht endlose Schlangen von Autos, die zur Arbeit nach Österreich fahren. Auch die Züge sind dichtgestaffelt und voll. Es sind mit Sicherheit viele tausend Pendler, die täglich die Grenze passieren!

Einer davon - ein ziemlich eloquenter und prächtig aussehender Dreißiger - schilderte, daß er beim ersten Lockdown im Frühjahr mehr als vier Monate seine Familie in Sopron nicht mehr sehen konnte. Denn er hatte sich entscheiden müssen: Entweder Job in Österreich (von dem die Familie lebt), aber dafür die Unmöglichkeit, die Familie zu sehen, und das auf gar nicht absehbare Zeit. 

Übrigens, die Menschen nahmen sich kein Blatt (und schon gar keine Maske) vor den Mund: Ein Teil des Protests war die bereits beschlossene bzw. geplante Errichtung eines "Touristenzentrums" - samt Hafen, Stränden und Hotels - mitten im hochsensiblen Naturschutzgebiet Neusiedler See - Schilfgürtel in Fertörakos. Tja, was meint der Leser, wovon da die
Rede ging? WER dieses Touristenzentrum (mit) errichtete? Hat er schon einmal den Namen "Orban" gehört? 

Aber sicher, das sind alles Verschwörungstheorien. 

Tatsache? Die Menschen haben überall den Corona-Wahn satt. 

Den Roberto Mattei in einem jüngeren Beitrag auf seinen Seiten in zwei Aspekten interessant charakterisiert. Der erste dieser Ansätze ist dabei der schwächere. Wo Mattei meint, daß die Corona-Krise die Menschen des Westens vor die Wahl gestellt hat, entweder TOD durch HUNGER oder TOD durch KRANKHEIT zu wählen. So sehen sich zumindest die beiden streitenden Parteien, die jede den anderen als Lebensbedrohung ansieht. 

Der zweite Aspekt Matteis ist spannender. Wo Mattei meint, daß man keinen Zweifel darüber haben kann, daß Covid19 im Grunde als Bedrohung ein Furz im Walde ist, um es mit eigenen Worten zu sagen. ABER dennoch ist die Welt aus allen Fugen geraten! Wegen eines Furzes! Was sagt uns das, vor Gott, was will Gott uns damit sagen? Vielleicht, daß ein lächerlicher Furz genügt, daß wir komplett aus unseren Verhältnissen fallen, und alles zusammenbricht? Das zeigt doch, wie dünn das Eis ist, auf dem unser Leben ohne Gott steht, schreibt Mattei!?

So kann man es sehen, durchaus. Daß das Leben durch diese neuerliche Beschränkung des Lebens schwerstens leiden wird, muß man sehen. Was geschieht, wenn der Schuster hier stirbt, all die kleinen Läden, die Weinhändler, die Restaurants, die Zahnärzte, die Fußpflegerin und Kosmetikerin (wie die eine Nachbarin in der Balfi utca; sie weinte fast, denn wieder, zum zweiten Mal in diesem Jahr, wird sie für unbekannte Zeit nicht wissen, wovon sie leben wird, denn keine Österreicher heißt für sie kein Einkommen!), die die Füße ihrer Kunden wie bei einer Gründonnerstagswaschung liebevoll verschönert, 

wenn die Papierläden, die Kuverts und Bleistiftspitzer noch in großer Auswahl und stückweise anbieten,

der Antiquar schließt, bei dem ich so manches Fundstück bereits erbeutet habe, das mein Denken (und meine Bibliothek) bereichert oder gar verändert hat,

wenn die Buchgeschäfte, die ihre Fenster thematisch und aktuell sortieren, und um die neuesten Erscheinungen Bescheid wissen, sodaß ein Blick ins Schaufenster - selbst für Nichtungarn wie uns, die wir praktisch keines dieser Bücher kaufen weil nur schwer lesen können - zumindest einen Blick ins intellektuelle Leben des ganzen Landes bedeutet, denn immer noch werden Bücher diskutiert und bestimmen die Schriftsteller die Themen,

wenn alle diese kleinen Geschäfte, die so mancher dieser widerlichen, kalten, hochmütigen Liberalidioten abwertend als "Zombieunternehmen" bezeichnet, die aber alle dieser Mittelschichte zugehören, die kaum Reserven hat, von ihrer Hände Arbeit Tag für Tag lebt, oft seit Jahrzehnten, und sie hätten es noch weitere Jahre und Jahrzehnte so gemacht, wenn also alle diese nicht mehr sein werden? Die einen so hohen Anteil am Lebenswerten dieser Stadt ausmachen, mit denen man Gespräche führen oder auch mal nur blödeln kann, die man kennt, die man grüßt, die ihre Produkte kennen und ihre Arbeit und ihre Existenz und ihre Kunden lieben. Was ist, wenn alle sie nicht mehr da sind?
 

Morgen Teil 2) Worum es aber wirklich geht


*030920*