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Donnerstag, 1. Oktober 2020

Geschichten aus Sopron und Ödenburg (2)

Aktualisierung vom 30. September 2020: Wie die Tageszeitungen berichten bleiben die Grenzsperren in bzw. nach Ungarn auch im Oktober aufrecht.

Teil 2) Worum es aber wirklich geht


Und man kann es ahnen, denn so viele dieser kleinen Läden haben bereits geschlossen. Das Textilgeschäft vorne am Varkerület gibt es nicht mehr, und so manchen anderen Kleiderladen, die Uhrmacher und Schmuckanbieter haben bereits geschlossen, hier eine Bäckerei, dort ein Schuhladen, ein Café, wieder eines. ... Der immer so freundliche Biohändler ist weg. Auch der ambitionierte Italiener in der Altstadt, bei dem ich vor Jahren das beste Osso Buco meines Lebens gegessen hatte, hat nach den Anfangsjahren, aus denen er freilich nie so richtig herauskam, nun das Handtuch geschmissen.

Gewiß, es war wohl ein Zombieunternehmen, wir wissen es. Und sowas ist ohnehin nur eine Belastung, oder? Jahre des Kampfes sind vorbei, in denen er ein Stammpublikum heranzuziehen suchte. Bürger, Mittelstand (der sich nicht, wie so strohdumm überall etabliert, über "Einkommen", sondern über Freiheitsgrade definiert), die es hier freilich kaum - nicht mehr ebenso wie noch nicht - gibt. Wo ich selber gerne mal mit Gästen hinging, deren kulinarische Ansprüche höher lagen. Denn in allem hielt er ein beeindruckendes Niveau in der Küche. Nun sind die Holzläden zugeschlagen. Ein ganzer nächster Winkel der Stadt ist tot. Wieder, muß man sagen, nämlich wieder wie vor 1989.

Wobei es ebenfalls Merkmal einer fehlenden Mittelschicht ist, daß dem Wirtschaften und Denken die Angemessenheit weil das Wissen, das Mit-Wissen, das Mit-Fühlen und somit das Soziale fehlt. In einer Stadt, in der die größten Immobilienbesitzer - seltsamerweise? - aus den Reihen ehemaliger Kader, Beamter und ... Politiker stammen.

Wußte der Leser, daß einer der größten Immobilienkäufe der letzten Jahre, der Verkauf des größten Hotels, an den Kreis der Familie Orban stattfand? Gewiß ein Zufall in einem der drei vor vier Jahren zur "Zielregion für Tourismus" erhobenen und mit viel Geld aufgepeppelten, also "attraktivierten" Region Soprons. Daraus erwächst dieses Realitätsverständnis, das exorbitante Mieten von Geschäftsleuten in Sopron für richtig hält, wie ich immer wieder in Gesprächen gehört habe.

Da wäre es durchaus interessant reale Zahlen dazu zu sehen, wie hoch die schon früher so exorbitante Verschuldung der Privaten - darunter der Mittelstand - in Ungarn heute ist. Und wie hoch die China-Kredite sind, die Ungarn heute hat, und mit denen das Land vor zehn Jahren angefangen hat, um das Land diesmal aus der Krise zu bringen. Und wie hoch die in einem Jahr sein werden. Pecunia non olet? Naja, wir wissen es besser. Man ist immer in der Hand seiner Gläubiger, und tanzt, ob man will oder nicht, nach deren Pfeife.

Denn wie der Italiener konnte ein Geschäftsmann nach dem anderen dieses Jahr nicht mehr durchstehen. Der Stadt fallen langsam aber sicher die Zähne aus, so wirken die vielen Läden, aus deren leeren Augen Schilder wie "Kiadó" (zu vermieten) oder "Eladó" (zu verkaufen) leuchten. Und angeblich ist es in Mosonmagyárovár, also Wieselburg - Deutsch Altenburg, oder Köszeg, dem alten Güns und auch in Györ, also Raabs, nicht anders.

Ganz Westungarn hat vom und mit dem ehemaligen Um- und Hinterland gelebt, auf das sich jede Stadt wesenhaft bezieht. Und das diese Städte mit der Wende 1989 wieder ein wenig zurückerhalten haben. Noch einmal drei Monate Umsatzausfall verkraften schon deshalb viele dieser Kleinen nicht mehr, denn alle haben sich doch in den letzten dreißig Jahren auf die neue Lage eingestellt, in der mit der Öffnung zu Österreich alle wieder Luft - ihre alte, eigentliche Luft, sozusagen - bekommen haben.

Sind wir denn glücklicher, wenn wir nur noch zur fünfzigtausendsten Filiale von Tesco aus Großbritannien pilgern können, wir unsere Kleider nur noch bei H&M, unsere Bücher nur noch bei Amazon kaufen können? Können. Und die Alternative ist, daß wir nur noch mit emanzipierten Damen im Zweitjob konfrontiert sind, die desinteressiert die Ware über die Scannerkassen ziehen und nervös warten, daß es endlich fünf ist und sie zu Kindern und Mann heimgehen können? Ist das noch Leben?   

Der Tod gehört doch dazu, meinte die Spezialitätenhändlerin, die ausgezeichnet Deutsch spricht und offenbar viel nachdenkt, und sichtlich froh und erleichtert ist, daß wir ähnlich zu denken scheinen, das macht weniger alleine. Sterbe ich an Corona, na dann soll es halt so sein, schiebt sie nach. Gut, wer es für richtig hält, sich zu schützen, kein Problem. Man schützt sich ja auch vor denen, die mit Schnupfen und roter Nase herumlaufen. Wen kümmert's denn anderseits, wenn wir an Grippe sterben, an der ein Vielfaches an Menschen sterben als an diesem Corona-Virus.
Und mit Recht, denn so ist das Leben. Aber es ist eben das. Leben. Und das soll, meint die Händlerin, die seit zwanzig und mehr Jahren ihren Laden betreibt aber jetzt verzweifelt ist, vor allem dem Mittelstand ausgeblasen werden, der stört das Geklüngel um die Welt. 
Überleben können nur die, die vom Staat abhängen, von den Staatsschulden, um genau zu sein, und die sich davon abhängig machen. Die sich immer schon gerne und gut eingenistet haben im Speckbauch der Obrigkeiten. 
Sieht man auf die eigentlichen Wirkungen der Corona-Krise muß man ihr ungeteilt zustimmen. Aber sie werden alle noch einmal schauen, meint sie trotzig, denn wenn es uns nicht mehr gibt, gibt es irgendwann die da auch nicht mehr!
Das alles soll sich in einem Protestaufmarsch Ausdruck verschaffen, den sie für den späteren Nachmittag des kommenden Samstages am Hauptplatz, vor dem Rathaus, ankündigt. An dem sie zwar - wegen einer Hochzeit - nicht persönlich teilnehmen kann, den sie aber voll unterstützt. 
Das Leben geht eben auch anderswo weiter. Das macht doch auch ruhig, und freilich, wir sollten es nicht vergessen.
Im Schmuckladen zwei Straßen weiter suchen wir eigentlich nur einen kleinen Verschluß, der den alten, verloren gegangenen am Ohrgehänge der Frau ersetzen kann. Und wir finden tatsächlich einen, zum Preis von ein paar Pfennigen. Aber ich lasse mir dann auch die herrliche silberne Uhr aus der Vitrine reichen und genau erklären. Sie ist schön, und ein Uhrmacher der Stadt (er hat mir schon früher eine Uhr perfekt restauriert) hat sie so fein in Ordnung gebracht, daß sogar ein Jahr Garantie geboten wird. Ich werde sie vermutlich kaufen. Wer sollte es sonst? Es kommt ja niemand sonst mehr in die Stadt!

Aber wir brauchen einander. Wir alle. Und es kommt auf jeden an. Was eine Gesellschaft zusammenhält, die in ihrer Tätigkeit einmal und zuerst als Kultgemeinschaft, dann aber gleich als Wirtschaft bezeichnet wird, ist nämlich die Gabe, der die Gegengabe folgt. Nicht die Mentalität des "catch as catch can", mit der einer den anderen belauert und nur auf den Moment wartet, zu dem er zuschlagen kann.
Was Wirtschaftsidioten als "Preisbildung" und "Markt" bezeichnen, ist in Wahrheit genau umgekehrt. Jene beschreiben also nur den Zustand einer bereits gebrochenen Gesellschaft aus Gier und Angst und Skrupellosigkeit. Wer aber bedarf, der verdient noch besser, noch billiger bedient zu werden als der, der ohnehin hat. 
Was nämlich eine Gemeinschaft von einer Raubrittergesellschaft unterscheidet, ist genau das: Die Moral der wechselseitigen Verbindlichkeit, in der jeder letztlich sogar mehr zu geben versucht, als er nimmt oder sogar nehmen "muß", um den anderen nicht zu verletzen, und aus dem Gefüge hinauszustoßen. Aus Liebe, aus Wohlwollen, aus ethischer, moralischer Verpflichtung, und nicht zuletzt aus Vernunft. 
Vor allem aber aus einem Grund. Es ist der Grund, der das Abendland so wohlhabend gemacht hat. Richtig, es ist dieser Grund, nicht der des Raffens und der Cleverness und der Bedarfsausnützung. Es ist der Geist des Dienens, der das Abendland von allen übrigen Kulturversuchen so maßgeblich unterscheidet. Der aus der Haltung und dem Wissen geboren ist, daß der Lohn - nicht nur den Christen - in der Ewigkeit ausgezahlt wird. Nicht am Monatsende.
Dadurch wird eine Gesellschaft lebenswert, und dadurch wird eine Stadt wie Ödenburg - Sopron lebenswert. Oder sie stirbt. Auch wenn sie später wieder als Disneyworld weiter existieren sollte. Die dann erst - aber dann wirklich - von Zombieunternehmen charakterisiert wird. Wer also das Leben dermaßen zusammenschlägt, wie es derzeit und im gesamten heurigen Jahr bereits weltweit erfolgt, ist ein Mörder.



*030920*