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Sonntag, 4. Oktober 2020

Aus einer Fastenzeit - Brief an S

17. März 2009

 Guten Morgen!

Nun doch die innere Ruhe wiedergefunden, für Stunden, sie wird wieder flötengehen, heute, im Trubel Wien - zurück - Wien (morgen) etc. etc.

Aber jetzt, noch trunken und satt von einem Traum, der mich immer noch durchglüht und mir ganz neue Dinge wachrief, nach deren erlösender Kraft ich mich so sehnte, weil mich birgt, und am Nachdenken über Schlingensief, tauchte diese Frage von Dir wieder auf. Nein, es war eine Feststellung. Nein, ein Aufruf. Sich dem Alter gemäß zu betragen, und das Ende der Wünsche auszurufen.

Ich war alt, so kommt es mir oft vor. Ich war bereits alt. Sehr alt sogar. Dein Ruf ist mir so auch ein Ruf einer Welt, der ich wieder entflohen bin. In einer immer volleren, bewußteren Entscheidung laufe ich nun meiner Kindheit nach, und wo immer ich das wirkliche Gefühl habe, richtig zu entscheiden, ist es ein noch radikalerer Schritt hin zu dieser Kindheit. Zu diesen Gefühlen von damals, diesen Lichtern, diesen Stimmungen, diesen Gerüchen und Geräuschen.

Den Versuch, diese Kindheit hinter mir zu lassen, alle diese Bilder und Eindrücke in ein Album einzuordnen, als Grundbedingung für das, was gelungenes Leben angeblich bedeutet, habe ich hinter mir. Er schien geglückt. 
Aber wenn ich nun denn einmal sterbe, so nicht, ohne das Leben noch weiter ausgekostet, ausgereizt zu haben, denn ich war nicht satt geworden. Ja im Gegenteil, anstatt den Hunger zu stillen, habe ich mich damit befassen müssen, den Hunger wegzuimaginieren. 
Wenn ich mich aber frage, was ich bereuen würde, ganz gewiß bereuen würde - neben dem Schmerz um all das Scheitern und Mißlingen und Entbehren, das überall dort besonders schmerzt, wo es auf Dummheit, Bosheit und Irrtum beruht - wenn ich mir also vorstelle, am Sterbebett zu liegen, wo mich der riesige Schrecken überfällt angesichts alles dessen, was ich schuldhaft versäumt habe in meinem Leben, nur um eines irrwitzig-dummen Selbstbehauptungswollens wegen, so ist es das: Nicht ganz und radikal auf diese eine einzige Karte Wirklichkeit, auf diesen winzigen Stecknadelkpopf gesetzt zu haben, der entgegenpiekst und so rasch, Moment für Moment, wieder verscheucht ist. Einmal nicht zurückgeblickt, mit der Hand am Pflug, sondern der faktischen Welt das Paradies abgetrotzt, eingehüllt in ein besonderes Versprechen, das ich über meinem Leben sehe.

Und das zu nennen für andere so grotesk scheint, daß ich es immer noch nur halb enthüllen wage. Aber ich habe die, die mir's wegnehmen wollten, immer als böse erlebt und erfaßt. Weder ist jene Welt der Erwachsenheit wirkliche Erwachsenheit, noch ist es das, was mein Leben gelungen werden ließe. Vielmehr verdanke ich jenen Armen, die mich zu Zeiten so herniederzogen, selbst zu fliegen versuchten, was nie gelang, worauf der Neid mich noch mehr niederdrückte, mit den Schultern auf die Erde preßte, festhielt, nie mehr rühren sollte ich mich können, nur soweit gelockt als daß ich das Geheimnis preisgäbe, das sie in mir wußten und wissen ... Oh nein, ich habe mich entwunden, um einen Preis der manchmal grotesk hoch wirkt, manchmal, und mich selbst zweifeln läßt, oft genug, und tief genug, weil es an Rechtfertigung mangelt.
Oh nein, nicht daß ich mich dem Erwachsensein verweigerte. Ich verweigere mich nur einem bestimmten Erwachsensein, das zu leben verlangt indem man auf das Leben verzichtet. Und seine eigentlichen Momente darauf beschränkt, zu konstatieren, was es nun denn Leben sein ließe. 
Ein Leben, das seine Konkretion in jedem Menschen einzigartig findet, und finden muß, sodaß ich nicht behauptete, daß meine Weise es zu deuten die für alle sei, ja zum Gegenteil! Mir ist bewußt, daß meine Weise zu leben für die meisten nicht gienge, und nicht zutreffend wäre. Daß ihnen das, was in mir sich regt, wenn ich ihnen zuschaue, monströs und schrecklich erscheinen muß und soll.

Oh ich weiß, daß das, was ich von mir behaupte und für mich reklamiere, als heiliges Recht sozusagen, von Gott jeden Tag neu abgetrutzt, genau das ist, was ich anderen vorwerfe, die - doch wie ich - am Boden sitzen und die Arme ausrecken und "tragen!" rufen.

Oh ich weiß, daß ich nur das sein will, was andre zu Recht als "nicht erwachsen" bezeichnen. Ich habe es versucht, mit aller Kraft, deren ich - und ich bin kräftig! - fähig bin. Es ging nicht.

Ich konnte und kann nur weiterleben, wenn und wo ich den Mut finde, wieder Kind zu sein. Dies zu behaupten, dies zu erfechten, gegen alle diese Welt, die mich jeden Moment mit tausend Haken, Ösen und Fallen bedrängt, das sehe ich nun als erwachsen. Dieses Licht, das zu entfachen bereits so viel Erwachsenheit und Nüchternheit benötigt, wie sich vielleicht keiner vorstellen mag, ja daß ich sogar behaupte, soviel Erwachsenheit finde ich außerhalb nirgendwo, weil sie um diesen Kampf weiß und ihn hellwach führt, dieses Licht aber durchzutragen, nicht ausgehen zu lassen, niemandem zu gestatten, es zu löschen, und das ist bei Gott die schwerste Arbeit, wenn man bereits erwachsen war, das also ist meine Aufgabe, ich habe die Lektion aus meiner Vergangenheit begriffen. Und so habe ich mich entschlossen, dieses Licht der Schönheit und Wahrheit zu entfachen, und so gut es geht nie mehr davon zu lassen.

Im Kunstbetrieb, vielleicht gerade heute, ist es übrigens auf seine Weise fast noch schwerer als "draußen", dieses Licht zu wahren. Denn dort trifft einen der Speer des Hagen im Rücken.

Wenn ich aber wieder einmal zweifele, wenn ich wieder einmal Stimmen Gehör geschenkt habe, denen ich kein Gehör mehr zu schenken habe, dann nehme ich sie her, die Stefan Georges und Gottfried Benns und Anton Wildgans' und Lichtenbergs und Goethe's und Schillers und Doderers und, oh ja: wie! -, Rilkes, und dann klopfe ich ganz leis an die Tür, ganz leis, und schleiche mich schüchtern in diesen Raum, in diesen Himmel, und dann bleibe ich im hintersten Eck, und muckse nicht auf, aber so glücklich, weil daheim. 

Da und dort sehe ich sogar noch den einen oder anderen Zeitgenossen, ganz weit weit weg, und ebenso schwach leuchtend und verzweifelt suchend wie ich vielleicht, sodaß es mehr wie ein Flackern ist, das nur die Erinnerung jeweils zum kontinuierlichen Licht macht, wie ich den jüngst verstorbenen Gert Jonke empfand, ohne mich in den Momenten, wo er wirklich leuchtete, mit ihm vermessen zu können zu glauben. (Menasse aber ist nicht dort drinnen, übrigens, der irrt, mit zorniger, düster umwölkter Stirne weit draußen herum, und sucht dieses Tor, aber er findet es nicht, er kann es nicht finden, weil er sich selbst im Wege steht, und eben nicht zu seiner Kindheit findet ...)

Ich war vorgestern mit meinem Sohn in einem Konzert, ich habe im Herbst ein Abo riskiert, hier in Sopron, und es nicht bereut. Eine Sopranistin gab, mit Pianistenbegleitung (die ja ein Dialog mehr denn Begleitung ist), Lieder von Liszt, Mahler (Rückertlieder!), Bartok. Wir gingen schweigend heim. Damit nur kein falsches Wort das Herz wieder zerreiße, das so voll war. Aber wenn ich sie höre, wenn ich "Mitternacht" höre, weiß ich, wo ich hingehöre.

Es mag sein, daß andere das als traurig, als grau empfinden. Aber das halte ich für Erwachsenheit! Zu wissen, daß die Welt, daß diese Welt grau und zu betrauern ist, weil sie des Paradieses verlustig ging, ein für allemal. Ich meine, gnadenhaft, geschenkhaft, eine Ahnung davon mitbekommen zu haben, und das ist mir Auftrag. Zwanzig Jahre lang habe ich versucht, mich dieses Auftrags zu entledigen. Um mir doch endlich nur zu beweisen, daß es nicht anders geht als ihm zu folgen.

Heut nacht, trunken von diesem Licht, diesem güldenen Licht, und immer noch durchdrungen davon, hab ich wieder Kraft geschöpft, weiterzugehen, einen weiteren Tag weiter zu gehen, auf meine Kindheit zu.

Mit Feuerschwert werde ich alle vertreiben, die es unrechtmäßig erobern und zerstören wollen. Vielleicht schaffe ich nämlich doch noch, einen Sekundenbruchteil vor meinem Tod, diesen Moment innerhalb dieser Erde. Den Moment völliger Freiheit, der ein Moment völliger und kindlicher Hingabe ist.

A.


*240920*