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Sonntag, 1. Dezember 2013

Königtum ohne Untertanen (1)

Henri Pirenne schreibt in seiner (in seiner pointierten Überblicksausrichtung sehr empfehlenswerten) "Geschichte Europas", daß was heute unter "Feudalismus" verstanden wird, nämlich ein gesamtes Gesellschaftssystem, gar nie ein solches war. Die verleumderisch gemeinte Begriffsverwendung für ein Gesellschaftssystem der brutalen Ungerechtigkeit und Ausgeliefertheit entstammt (wie so zahlreiche andere Geschichtslügen, die wir heute als bare Münze nehmen) der Französischen Revolution, wo er zum politischen Kampfbegriff wurde. 

Vielmehr war der Feudalismus politisch und gesellschaftlich gesehen eine Sekundärerscheinung des Mittelalters, und schon gar kein System der Unterdrückung. Denn er bezeichnet nur die Tatsache, daß die Grafen ihre Länder, über die sie im Namen des Königs - aber durch dessen Machtlosigkeit bald nur noch zu ihrem eigenen Vorteil - regierten, wo sie Recht sprachen, eine Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten aufbauten, und wo sie vor allem die Bevölkerung schützten, formell aus der Hand des Königs zugewiesen bekommen hatten, der sie ihnen aber bald nicht mehr entreißen konnte. Nicht mehr. 

Eine Bevökerung, die keineswegs dieses System der Zugehörigkeit zu einem Grafen als Unterdrückung, sondern im Gegenteil: als Sicherheit und Natürlichkeit empfand, unter der sich ihr Leben entfalten konnte. War diese Konzentration in gräfliche Macht ja einer freiwilligen bis notwendigen Aufgabe je kleinerer Souveränität (über Haus und Hof etwa) zugunsten eines mächtigeren Schutzherren gefolgt. Ohne ordnende Macht, die dem Einzelnen überstand, und die vor allem die reale Macht hatte, die Dinge zu regeln, war alles in Chaos gefallen. Das hatte die Zeit der Völkerwanderung demonstriert.

Wenn man von blutig und brutal speziell in der Zeit des 9.-12. Jhds. sprechen kann, dann also nicht in den internen Verhältnissen. Einen Dieb aufzuhängen oder einen Mörder zu köpfen hatte niemand als "brutal", nur als notwendig empfunden. Überall in Europa waren es diese Grafen, die eine gesellschaftliche Ordnung aufrichteten und gewährleisteten, mit der im Grunde alle zufrieden waren. Und diese Ordnung verteidigten die Grafen sogar mit ihrem Leben. Sondern aus der Tatsache heraus, daß diese Grafen sich untereinander mit allen Mitteln bekämpften, um ihre Macht zu sichern und zu vergrößern. So wurden aus manchen Grafen, die Konkurrenten unterwarfen, Fürsten über mehrere Territorien, deren Machtherrlichkeit zwar formal an einen König gebunden war, die aber alle reale Macht in ihren Gebieten in den Händen hielten. Niemand, und schon gar kein König, hätte sie beschränken können, ja die Könige mußten um die Verbündung mit dieser realen Macht buhlen, wollten sie überhaupt noch etwas wie Macht bewahren.

Anders aber, so Pirenne, hätte sich eine Neuorganisation Europas nach dem Zerfall der Römischen Zentralmacht, des Römischen Staates, gar nicht bilden können.* Es war der logische und natürliche Weg, folgte den faktischen, realen Machtgegebenheiten, die sich gar nicht anders hätten bilden können. Von einem Staat wußte kein Untertan etwas, und wollte auch davon gar nichts wissen, es betraf ihn nicht. Das Leben bildete sich auf kleinste Räume zurück (über die Zusammenhänge war hier bereits die Rede), und die Menschen waren mit ihren Grafen und Fürsten tief verwachsen, er hatte eine vaterähnliche Stellung inne. Und so bildete sich allmählich auch etwas wie "Patriotismus" heraus, der sich auf dieses unmittelbare Umfeld bezog. Die Menschen verwuchsen mit ihrem Land. Auch die Fürsten.




*In einer Entwicklung zur Partikularität und Individualität, die sich von der gesellschaftlichen Situation des Orients völlig unterschied, wo es zu starken Zentralstaaten mit einer gottähnlichen Position des Zentralfürsten gekommen war bzw. kam.


Morgen Teil 2) Wir stehen vor einer neuen Post-Völkerwanderungszeit





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