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Freitag, 6. Dezember 2013

Schleichender "brain drain" (1)

Wie kann es sein, fragt Otto Seeck in seiner lesenswerten "Geschichte des Untergangs der Antiken Welt", daß Rom binnen eines Jahrhunderts (2./3. Jhd. n. Chr.) seine Wehrfähigkeit einbüßte? Wie kann es sein, daß eine so hochzivilisierte Gesellschaft sich in der Kriegstechnik den immer weiter steigenden Anforderungen durch die Einbrüche der Fremdvölker an den Grenzen nicht mehr weiterentwickelte? Nicht eine einzige Entwicklung ist zu verzeichnen!* Warum ist es nicht zur Entwicklung etwa des Schießpulvers gekommen, die technisch absolut in Reichweite gelegen hätte, und alle militärischen Probleme gelöst hätte?

Sämtliche Quellen zeigen dabei, daß die wehrfähige Bevölkerung weder zurückging, noch kränker als zuvor gewesen wäre. Dennoch gelang es im 3. Jhd. nicht einmal mehr, die Prätorianergarde - bloß 700 Mann jährlich wären dazu nötig gewesen - mit Römern zu besetzen, bei (nach seriösen Hochrechnungen) permanent gut und gerne 5-7 Mio. wehrfähigen Männern im Reich. Man zog zwangsläufig zunehmend Männer aus den Grenzgebieten hinzu.

Seeck findet nur eine plausible Antwort, die sich auf die langfristige Entwicklungen beruft, die sich immer rascher zu einer prekären Situation verdichteten. Und er meint: Es war ein allmälicher brain drain, ein Diffundieren der intellektuellen und sittlichen Fähigkeiten des Reichs.

Die zunehmenden Grenzkriege, aber auch die internen sozialen Entwicklungen, hatten spätestens ab dem 2. Jhd. eine Umstellung der Streitkräfte bewirkt. Man benötigte ein schlagkräftiges stehendes Heer. Der frühere Wehrdienst "nach Anlaß" reichte ja schon seit den Bürgerkriegen nicht mehr. Nur so konnte die Kampfkraft aufrechterhalten bleiben. Soldaten, die 20 oder 30 Jahre in der Fremde leben, gründen aber keine Familien, und haben weniger Kinder. Damit wurde aber auch aus Rom selbst ein Charakterschlag zum nunmehrigen Soldatenberuf angezogen, der an Beute und Geld interessiert war, dem das Vaterland selbst gleichgültig war.

Durch die immer leichter gemachte Einbürgerung von ehedem okkupierten Bevölkerungen wurde die Situation höchstens quantitativ erhöht. Aber fast alle eroberten Länder hatten selbst bereits eine Geschichte des "brain drains" und Vermassung (Hellenismus!) hinter sich. Zurückzuführen schon alleine auf die Sitte, daß den besiegten Völkern traditionell von den Siegern vor allem die Eliten entzogen wurden, durch Bestrafungsmaßnahmen, Tötungen etc. Siegermächte töteten sehr häufig die Eliten, ließen die einfache Bevölkerung leben. Und in jedem Fall waren es die Tapfersten, die Besten, die in Kriegen fielen.

Auch für Italien galt dies: die nach-augusteische Zeit, v. a. unter Nero, war geprägt von einer regelrechten Ausrottung der alten hervorragenden Familien, während der Besitz der Kaiser unfaßbare Dimensionen annahm, der eine wachsende Schichte von ihm Abhängiger erwuchs.

Und sie gestalteten die besiegten Länder auch ökonomisch zu Produktionsstätten industriell gefertigter Massenprodukte, zu Absatzmärkten römischer Kaufleute und römischer höherwertiger Produkte um.** Es kam in Rom wie in den Provinzen zu ungeheuren Landkonzentrationen, der die kaisergewollte Urbanisierung neue Schichten Proletariats und Bürgertums gegenüberstellten, abhängig wie die vielen Emporkömmlinge, die die alte Aristokratie ersetzte - Menschen eines neuen Schlags, Menschen eines Zentralstaates. Das Verhältnis zum Boden veränderte sich grundlegend, die Landwirtschaft baute sich zu einem von Pächtern und Kaufleuten bewirtschafteten, industrialisierten Erwerbszweig um.

Zugleich wanderten viele der Römer, die ihr Leben kraftvoll gestalten wollten, v. a. in die westlichen Provinzen ab. Weil sie sich in Rom, dessen Bevölkerung bald überwiegend aus zugezogenem Proletariat bestand, keine Zukunft mehr sahen.

Damit fehlte es der Jugend an gutem erzieherischem Einfluß, an lebendigen Vorbildern der Tugend, die für die erfolgreiche Selbstverteidigung notwendig gewesen wäre, an denen sich Erziehungsideale noch hätten herausbilden können. Und zugleich fehlte es zunehmend an Bildung, die mehr war als "skills", die sittlichen Antrieb und Mut, ja Todesbereitschaft braucht, will sie nicht zum saftlosen, unernsten Ästhetizismus entarten.

Schon der Bürgerkrieg von 69/70 (nach Nero) zeigt, wie sich der Ethos des Heeres geändert hatte: Italien war proletarisiert und primitivisiert, das Militär stellten fortan (von den Kaisern so gewollt) die Provinzen und Söldner, die kaiserliche Macht selbst ruhte auf den Schultern städtischer Bourgeoisie. Rom, Italien hatte sich nach und nach um seine Qualitäten gebracht - nun fehlten sie, die sittliche Qualität der Bevölkerung war gekippt.





Morgen Teil 2) Das Schwache will sich selbst aufsparen



*'Seeck meint, es sei vom intellektuellen Stand Roms her unverständlich, warum etwa nicht das Schießpulver oder das schon ab 500 in Byzanz angewandte, jahrhundertelang so kriegsentscheidende "griechische Feuer" entdeckt wurde. Deren schon alleine psychologische Wirkung auf die Barbarenvölker vermutlich ungeheuer gewesen wäre. Die Teile waren alle da und bekannt. Entwicklungen brauchen aber eben einen individuell wirkenden sittlichen Antrieb, sie sind nicht einfach Ergebnis intellektueller Summierung.

**England machte es später mit seinem Commonwealth übrigens nicht anders.





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