"Durch einen Akt der Imagination kann der Mensch sich zu einem Selbst schrumpfen, das dazu verdammt ist, frei zu sein. Für dieses geschrumpfte oder kontrahierte Selbst*, wie wir es nennen, ist Gott tot, ist die Vergangenheit tot, ist die Gegenwart die Flucht aus der nichtwesenhaften Faktizität des Selbst auf das hin, was es nicht ist, ist die Zukunft das Feld des Möglichen, unter dem das Selbst seinen Entwurf für ein jenseits bloßen Faktizitätseins wählen muß, und ist Freiheit die Notwendigkeit der Wahl, die das Sein des Selbst bestimmt. Die Freiheit des kontrahierten Selbst ist die Verdammnis des Selbst, nicht imstande zu sein, nicht frei zu sein.
Die Kontraktion seines Menschseins zu einem in seine Selbstheit eingekerkerten Selbst ist das Charakteristikum des sogenannten modernen Menschen. Sie wird als personaler und gesellschaftlicher Prozeß im 18. Jhd. erkennbar, wenn der Mensch von sich nicht mehr als Mensch, sondern als Selbst, als Ego, als Ich spricht, als Individuum, als Subjekt, als transzendentales Subjekt, als transzendentales Bewußtsein und so fort; und ihre Struktur gewinnt im 20. Jhd. äußerste Klarheit [...].
Da der mit der Deformation zu einem Selbst beschäftigte Mensch weder aufhört ein Mensch zu sein noch die Realität seiner Umgebung aus Gott und Mensch, Welt und Gesellschaft ihre Struktur ändert und die Beziehungen zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Realität auch nicht abgeschafft werden können, muß es zu Friktionen zwischen dem geschrumpften Selbst und der Realität kommen.
Der Mensch, der an der Krankheit der Kontraktion leidet, beabsichtigt jedoch nicht, das Gefängnis seiner Selbstheit zu verlassen, um die Friktionen zu beseitigen. Vielmehr wird er seine Imagination noch mehr anspornen und das imaginäre Selbst mit einer imaginären Realität umgeben, die geeignet ist, das Selbst in seinem Anspruch auf Realität zu bestätigen; er wird eine Zweite Realität, wie dieses Phänomen genannt wird, schaffen, um die Erste Realität, die der gemeinsamen Erfahrung, auszublenden.
Weit davon entfernt beseitigt zu sein, wachsen sich die Friktionen nun zu einem allgemeinen Konflikt zwischen der Welt seiner Imagination und der realen Welt aus.
Die Spur dieses Konflikts führt von der inhaltlichen Diskrepanz zwischen imaginierten und erfahrenen Realitäten über den Akt des Entwurfes einer imaginären Realität bis zum Menschen, der den Akt vollzieht."
Eric(h) Voegelin in "Realitätsfinsternis",
wo der gebürtige Wiener, der nach dem Verbot der Nazis 1938, als Geschichtsphilosoph zu lehren, in die USA ausgewandert ist, bereits in den 1950er Jahren die heutige Lebenswelt als zwangsläufige Konsequenz der geistigen Entwicklungen vorwegnimmt, und die Rolle von Internet und social media verdeutlicht.
*Voegelin versteht darunter die Konstruktion eines Selbst, das die Existenzoffenheit zu Gott verloren hat, ein Akt, der zur Verdunkelung der Realität führt.
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