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Freitag, 3. Januar 2014

Koalition der Wurzellosen

Die Analyse der Situation Europas zu Beginn der Renaissance von Henri Pirenne endet mit einem verblüffenden Fazit. Denn die einzelnen Wege, die sich mit einem male zusammenführen und die Neuzeit des Kontinents einleiten, sind sämtlich stringent, aber von verschiedensten Richtungen aufgebaut worden: Es sind die Monarchen gewesen, die von den drei mächtigen Neuerungswegen, die zwischen 1450 und 1550 das ganze Abendland auf den Kopf stellten, am meisten profitiert haben, und ohne die sie sich nie hätten durchsetzen können. Als Allianz von vier schwachen gesellschaftlichen Kräften, die einander brauchten: Den Königen und Kaisern, den Bürgen und Kapitalisten, dem Bildungsadel und bürgerlichen Beamtenstand, und den religiösen Eiferern und Neuerern.

Nur in dieser Symbiose konnten sich diese Kräfte gegen den alten, mit dem Volk verwachsenen Adel, gegen das gewachsene Gewerbe und das reaktionäre Zunftwesen, sowie gegen die traditionelle Stellung des Klerus, der das geistige Monopol hielt, durchsetzen. 

Alle diese Emporkömmlinge und Neuerer brauchten die Legitimation und rechtliche Absicherung. Der Kaiser, die Könige und Fürsten verschafften sie ihnen. Und erhielten als Gegenleistung endlich eine ihnen treu ergebene weil von ihnen abhängige Bevölkerungsschichte, die vor allem aber eines hatte: GELD. Erst damit konnten die Monarchen Politik machen, Heere ausrüsten, Einfluß kaufen. Und so schuf sich in diesem einen Jahrhundert mit einem male eine zuvor noch nie gesehen Machtstellung der Fürsten, die die Entwicklung zum Absolutismus bedeutete.

Sie mußten² nicht mehr die Absetzung durch die Völker fürchten, mußten sich nicht mehr den lästigen Kontrollen in den ständischen Räten stellen, mußten sich nicht mehr der Gängelung durch die Kirche unterwerfen, mußten nicht mehr mühsame Bündnisse mit ihren Teilfürsten suchen, um Außenpolitik zu machen, und konnten einen Hof führen, eine Lebensart pflegen, die es in dieser Pracht und Machtfülle noch nie in Europa gegeben hatte. 

Und ihren Verbündeten schufen sie dieselbe Freiheit - die Studierten trennten sich vom Glauben, das Wissen von der Theologie, der Kapitalismus überrundete die streng reglementierten Gewerbebetriebe und begann sich über die ganze Welt - buchstäblich - auszubreiten (es war die Krone, die das Geld zur Entdeckung Amerikas gab). Neue Geschäftsfelder, die die ersten Schrecken des Kapitalismus bereits vorwegnahmen, wie die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen.*

Und die reformierten bzw. protestantischen Kirchen konnten sich von Rom lösen und ihre eigenen respektierten Kirchen gründen, und ungehindert ihre Ansichten im Volk verbreiten. Es waren die Monarchen, die die Renaissance förderten, die so völlig neue Lebensannehmlichkeiten brachte, das Denken völlig auf den Kopf stellte.** Welch innere Dynamik sie trugen zeigt u. a. der Calvinismus, der wenn man ihn ließ, wie in Genf, eine totalitäre Struktur zeitigte, wie wir sie erstmals wieder rein technisch mit dem Internet, der Kontrollmöglichkeit bis in den letzten Lebensbereich hinein, erreicht haben.***

Und die Fürsten, die in der Huld der Monarchen standen, oder wie in Deutschland allerspätestens seit Friedrich II. dem Staufer ihnen im Streben nach Macht und Pracht nacheifern wollten, weil sie scheinbar ohnehin von einem Oberherren emanzipiert waren? Sie konnten mit den Kirchengütern gelockt werden, die es zu requirieren galt, und nach denen sie ohnehin immer schon geschielt hatten. Sie übersahen, wie in Deutschland, daß diese Partialmacht einen großen Verlierer hatte - die gewachsene, natürliche Struktur ihrer Völker, der Gedanke des Föderalen, ja genau genommen: der der Subsidiarität. Ersetzt wurde das durch den Zentralismus, wie er mit der Aufklärung, die endgültig das geistige Futter für diesen Umsturz lieferte, das geistige Ziehbett erhielt. 

Kapitalismus, Aufklärung, Reformation und fürstlicher Absolutismus und Zentralismus, dessen Nähe zum orientalisch definierten Despotismus eines gottähnlichen Monarchen alles andere als zufällig waren, und dem die deutschen Fürsten, als letzte in Europa, mit der Gründung des Kaiserreichs 1871 zum Opfer fielen, waren also je aufeinander gestützte Schwestern. Eine Koalition der WURZELLOSEN. Denn genau das waren sie. Alle.****



²Was in dem heutigen historisch-sachlich (prinzipiell auf jeden Fall) falschen Haß auf die Kirche völlig übersehen wird ist, daß die Katholische Kirche die einzige gesellschaftliche Kraft geblieben war, in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden, die den Herrschen in ihrer Tendenz, ihre Macht zu verabsolutieren, Widerstand geboten hatte, nachdem das gemeine Volk zunehmend ausgeschaltet war. Auch heute noch kommt der Haß auf die Kirche nicht aus dem einfachen Volk. Er kommt nach wie vor von den Emporkömmlingen, die Allianzen mit der Macht suchen (siehe u. a. "Marsch durch die Institutionen"). Ihre Berufung auf das Volk ist eine glatte Lüge. Linke ebenso wie Linksgrüne sind Bewegungen des bürgerlichen Kapitalismus. Und so waren es so gut wie alle sogenannten Revolutionen (darüber wurde an dieser Stelle bereits ausführlich berichtet; siehe Stichwort "Jacques Ellul"), die  man mit völlig anders gearteten (selteneren) Notaufständen nicht in einen Topf schmeißen darf. Wenn heute gerade linke Parteien deshalb mit der Angst vor "sozialen Unruhen" argumentieren, so dient dies ausschließlich der Erhaltung ihrer Machtsysteme. Der Leser möge darauf einmal genau achten.

*Kaiser Maximilian mußte bereits zu Beginn des 16. Jhds. Gesetze zur Wiederaufforstung im Unterland von Tirol erlassen, weil der durch die Pächter (wie die Fugger, Welser etc. - alles Emporkömmlinge, sie alle kamen aus dem Nichts, und doch stützte sich die kaiserliche Macht fast zur Gänze auf sie) Salz-, Kupfer- und Silberbergbau, der sich ausschließlich durch SEINE bzw. kaiserliche Initiative entfaltet hatte, die Wälder rücksichtslos abgeholzt und Mondlandschaften hinterlassen hatte.

**Eines von vielen Details: Erstmals taucht in der Innenausstattung, dem Möbelbau, etwas auf, das zuvor völlig bedeutungslos gewesen war - Bequemlichkeit. Ja, erstmals tauchten überhaupt feste Möbel auf. (S. u. a. Siegfried Giedions erhellende Geschichte der Alltagskultur, die er als Weg zur "Herrschaft der Mechanisierung" zeigt)

***Die Parallelen sind überzufällig, und sie zeigen genau das, was sie zeigen - eine Staatskirche, einen Klerikerstaat: Wenn heute Menschen ihrer angeblichen oder vermeinten Einstellungen wegen ruiniert, aus ihren Positionen entfernt werden. Wer heute eine gesellschaftlich relevante Stellung einnimmt, muß längst achtgeben, daß er nichts Falsches, nichts gegen die herrschende Doktrine sagt! Es kostet ihn die Existenz. Genau, wie es im Genf des 16. Jhds. war, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Strukturen decken sich aufs Haar.

****Auch der Begriff des Monarchen ist ja ohne Bezug zum Boden, ohne feste Verankerung. Und bis in die neueste Neuzeit hinein war ihr Herrschaftsbereich nicht auf Land und Boden bezogen, sondern lediglich an ihre Person und persönliche Bindung. Mit dem Volk verwurzelt waren immer  nur die kleinen Vögte und Grafen und Herzöge, die aus den Besten des Volkes jeweils hervorgingen bzw. sogar gewählt wurden. Adel im besten, ja im eigentlichen und patriarchalen Sinne, als mit dem Volk zur Familie verbundener Landadel, wie es ihn sehr wohl gab. (Eine sehr lesenswerte Geschichte, die glaubhaft die Entstehung solcher gesunder Volksstrukturen beschreibt, ist "Witiko" von Stifter.) Die Entartung der Herrschaft zur Unterdrückung ihrer Untergebenen, wie sie etwa auch in der selben Zeit ihre Auswüchse zeitigte, wo die Untertanen im eigentlichen Sinn entstanden, willenloses Material in den Händen herrscherlicher Willkür, geht bereits auf einen neuen, wurzellosen Kunstadel zurück, der sich aus königlichen, monarchischen Dienstnehmern - wieder allesamt Emporkömmlinge - rekrutierte.





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