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Mittwoch, 2. April 2014

Vom Formen Heranwachsender

Jeder Mensch ist sich, wenn er zur Welt kommt, ein Fremder. Erst im Laufe seines Lebens wächst er zu seiner Vollgestalt aus, in der Selbsterkenntnis. In der er erst aus geistig ausgereiftem Urteil heraus Entscheidungen verantwortlich treffen kann. (Das Strafgesetz kennt diese Verantwortlichkeitsbezüge, übrigens, darauf bezieht sich die "Mündigkeit".) 

Es ist deshalb unverantwortlich, einem Kind oder Jugendlichen Entscheidungen über seinen Lebensweg schlechthin selbst zu überlassen. Erst mit dem Ausreifen seiner Körperlichkeit, und zwar in allen konkreten kulturellen Bezügen, der ein begleitendes Ausreifen der Geistigkeit (zu dem, was man dann mit "Persönlichkeit" bezeichnet) entspricht, erst also mit der Erwachsenheit, vermag der Mensch auch verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Weil sein Urteil einer ausgereiften Geistigkeit entspricht.

Erziehung muß deshalb heißen, diese Offenheit zur Wahrheit zu formen, zur Gewohnheit zu machen. Erziehung muß deshalb Erziehung zur Tugend sein, und schon gar in der Grundlage aller Offenheit und damit aller Tugend - in der Selbstüberschreitung. Nur in ihr ist das Vermögen, sich NICHT vom Begegnenden überwältigen zu lassen, gegeben. Eine konkrete Ergreifung eines figuralen Gestalthaften in der Gesellschaft ist damit vorbereitet, durch eine allgemeine Fähigkeit, überhaupt zu urteilen.

Und sie wird in der Regel nicht weit von der konkreten Form der Eltern, der Familie liegen. Denn immerhin hat das Kind die Anlagen von den Eltern (bzw. deren Linie in den Generationen) erhalten, und deren Identität ist das im fortwährenden Geschichtsprozeß herangereifte identitäre Sein, das auch dem Sprößling entspricht. Aber noch mehr: diese Identität, die das Kind ohnehin prägt (als "Sohn oder Tochter der und dessen"), ist der erste Anzug, der dem Kind gereicht werden muß. Um so an ihm allmählich zu erfahren, wo er erst passend - das heißt: der sich ständig entwickelnden Gegenwart angepaßt - gemacht werden muß. Selbst große "Ausbrüche" liegen, wenn man die Generationenfolgen genau ansieht, also auch die Vorfahren kennt (und sei es in Erzählungen), in irgendeiner bereits angelegten, also je vorhandenen Linie, die vielleicht an diesem oder jenem Kinde erstmals in Reinform hervortreten. Aber weil auch Selbsterkenntnis nur an der Reibung möglich ist, braucht das Kind in jedem Fall EINE Identität, in der es an die Welt herantritt. Und dieses ALS muß zuerst und sinnvollerweise das der Familie sein.

Was auch immer zuvor als "Talent", als Fähigkeit, als Neigung besteht, ist im Heranwachsenden noch nicht zur Gestalt geworden, ist noch amorph und reines, noch blindes Bewegungsneigen, das freilich in der Geschichte seiner Vorfahren diese oder jene (für ihn: ungefähre) Konkretion bereits hatte. Es wird erst in der konkreten kulturellen Prägung zur Aufgabe und damit zur Art und Weise, seinen Lebensweg in Verantwortung zu gehen. Zuvor muß es dem liebenden Blick der Eltern und Erzieher obliegen, diese Neigungen, diese Talente zu erkennen, und einer konkreten kulturellen Gestalt behutsam zuzuführen. Dabei im Scheiden, was dem Kinde selbst (etwa in einer Neigung zur Trägheit) im Wege steht, wo also durchaus einer Neigung gegenzuarbeiten ist, eine Schwäche zu stärken, eine Stärke nicht zur Monomanie werden zu lassen. 

(Kein Mensch lebt nur aus Stärken, vielmehr muß auch die Stärke beherrschbar und damit gemäß und in einer Gesamtharmonie einsetzbar sein. Man nehme als Beispiel jemanden mit ausgeprägten handwerklichen Fähigkeiten - ihm kann eine musische Ausbildung, in Maßen vielleicht, auch wenn es ihm nicht zu gefallen und er "gar keine  Neigung dazu" zu haben scheint, das wichtige Ergänzungsmoment liefern, auf das er zurückgreifen kann, um seinem bloßen Handwerk auch feinere Gestaltung zuzufügen.) 

So den Heranwachsenden in eine konkrete Gestalt hineinzubegleiten. Ihm dabei aber den bereits vorhandenen Gestaltraum anzuziehen, der nicht sehr weit von seiner Individualität weg liegen kann, auf daß er ihn der Zeit nach und nach konkret anpasse.

Kein Talent wird reifer, wird gar zum Beruf (oder wenn - zufällig), wenn es dem Kind überlassen wird, es zu verwirklichen. Und schon gar nicht ist jede Anlage, jedes Talent auch einfachhin gut, das heißt: demjenigen förderlich im Sinne einer hermonischen, verantwortlichen Lebensführung! Es gibt Talente, die in ihrer Verwirklichung, würden sie für sich gestellt, den Menschen in großes Unglück stürzen würden. Die meisten der Opfer des heutigen Gequatsches von "Hochbegabten" fallen in diese Kategorie, wo oft sogar schwere seelische Störungen von gewissenlosen Eltern zur Begabung hochgeredet werden.

Ebenso ist es unverantwortlich, JEDES Talent eines Menschen quasi gleichberechtigt zu betrachten - solche Menschen, deren es heute auch viele gibt, weil es kaum noch Erziehung gibt, finden meist kein Identitäts- und Berufsbild, in dem sie ihr Leben leben könnten, und werden von Neigung zu Neigung gerissen, die sie nie im Rahmen einer Gesamtpersönlichkeit zu werten und damit zu ordnen gelernt haben. Es wird vielmehr zur Laune, weil ihr das Übermomenthafte fehlt, wie es die Geistigkeit erst bedeutet, die es in der Urteilsfähigkeit in der Persönlichkeit geistig trägt. Ohne diese Geistigkeit aber kann ein Mensch gar nie Identität haben weil halten. Sie ist jenes überzeitliche, überzufällige Bild, auf das hin er sich immer bezieht, will er nicht in den Moment hinein zur je neuen Zufälligkeit (aus der Stärke des momentanen Eindrucks, etwa) zerfließen. Daß heute zu beobachten ist, daß wichtige Lebensentscheidungen der Menschen oft so spät fallen, oder gar nie, daß Menschen so spät heiraten, oder gar nie, oder "ihren" Beruf finden (nach vielmaligem Wechsel), ist auf diese Erziehungslosigkeit zurückzuführen. (Und so wird von der versammelten Doofgemeinschaft auch noch zur Vielfalt oder Freiheit hochgeredet, was verzweifeltes Taumeln ist, weil der Kreisel einfach seine ruhige Mitte nicht findet.)

Wer solcherart Heranwachsende nicht erzieht, stößt sie als noch amorphe, unharmonische Gebilde in die Welt, und überläßt es dem schmerzlichen Lebensprozeß selbst, sich allmählich jene Basis zu erringen, in der Selbsterkenntnis, von der aus es überhaupt erst verantwortlich und verdienstlich zu leben beginnen könnte.


(Weil aber niemand zweimal in denselben Fluß steigt, ist es ein Verbrechen, Kinder nicht zu erziehen, sondern in Experimente zu stoßen, und sich dabei der Verantwortung zu entledigen, indem man großsprecherisch "evaluiert". Kein Mensch darf je Objekt eines Experiments sein! Denn das heißt eindeutig: daß man einem Menschen eine Prägung zumutet, deren Wert man nicht kennt. Nichts am Menschen ist aber rückgängig zu machen.)




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