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Freitag, 1. August 2014

Erschöpfte Gesellschaft

Sehenswertes und leicht zu verfolgendes Philosophisches Quartett, mit Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk, Manfred Lütz und Elke Schmitter, mit einer hohen Dichte interessanter Schlaglichter und Interpretationsansätze, manchem angedeuteten Rundumblick, und Hinterfragungen, besonders des Psychologismus, der Existentielles hilflos pathologisiert.

Grundthese: Die westlichen Gesellschaften sind erschöpft. Diese Gesamterschöpfung, die sich über das Massenphänomen Depression, "burn out" bis hin zum Unwillen sich zu reproduzieren (und damit weiter bestehen zu bleiben) zeigt, fußt auf der Ideologie des "autonomen Menschen", der ständig und ausweglos dazu gezwungen wird, sein Selbst und Sinn aus eigener Kraft zu produzieren und auf der Höhe zu halten. Was sich bis auf europäische Ebene zeigt, als Unfähigkeit, noch europäische Politik zu machen (und sie nicht als Übertragung etatistischer Staatsfehlbildungen auf lediglich größere Bevölkerungsmengen zu mißdeuten.)

Was früher lediglich tragische Erscheinung bei Einzelerscheinungen war, bei Ausnahmemenschen, die durch ihre Position der Gesellschaft gegenüberstanden, etwa weil sie ihr voraus waren, und deshalb in Melancholie verfielen, ist heute zur Allgemeinerscheinung geworden. Aber der "normale" Mensch ist diesem Druck nicht gewachsen, und er kann auch diese Anforderung nicht erfüllen - denn die Herausgelöstheit der Superposition ist eben Ausnahme, die gar nicht zur Norm werden kann. Das mythische Dogma der "Begabung", die zum Fluch wird, und des Zwangs zur "Autonomie" schneidet ihm aber jeden Rückzugsweg und Muße ab, weil er selbst zum Zweck seiner "Ich-AG" wird, die in dem Moment zusammenzubrechen droht, in dem er zweckfrei agiert. Aufruhend auf dem Druck, daß die gesamte Welt in dem Moment zerfällt, in dem er sie nicht mehr aufrechthält.

Alain Ehrenberg (der im Gespräch mehrmals erwähnt wird) meint, daß dies die Zuspitzung der protestantischen Grundhaltung wäre, wie sie Voegelin übrigens mit seinen Analysen zu Calvin und Luther so treffend analysiert: Sie ist die Folge der Sichtweise, daß der einzelne Mensch seine Kirche für sich ist, sodaß ihn mit dem anderen nichts mehr verbindet, das ihn in seiner Grundrichtung auf Gott hin verbindet - und trägt. Während sein Denken zu einer Umfassendheit verdammt ist, die sogar heilsentscheidend wird. Aber wer kann das leisten?

Der autonomistische Mensch, der sich niemandem und nichts mehr verdanken, der von niemandem und nichts mehr abhängen will, ist aber eine Sackgasse, die sich in der Renaissance zur Gesamtstimmung der Kultur aufgeschwungen hat. Die in der Aufklärung zum Dammbruch wurde. Er entspricht aber (in dieser Form) nicht der Wirklichkeit und Natur des Menschen. Denn jeder verdankt sich, und verdankt sich unentwegt. Gerade die heutige Heilige Kuh des "Selbst", der angeblich selbst zu definierenden Identität (bis ins Geschlechtliche hinein), ist nur als "zugewiesene" möglich, ist eine Leistung der Umgebung, des Du, zu der man sich lediglich noch verhalten kann: als Material der Selbstergreifung, das im Aneignen erst den berühmten "individuellen Charakter" erhält. Das fatale Rousseau'sche totalitäre Konzept des "jeder weiß alles aus sich" ist heute aber sogar Grundkonzept der Pädagogik. Und ist es umso mehr, je mehr die Folgen dieser Pädagogik sichtbar werden. Denn sie führen geradewegs in diese Müdigkeit, dieses "burn out", von dem so viel die Rede ist.

Der allumfassende Sozialstaat der Gegenwart, in dem sich dieses Konzept definitiv Bahn gebrochen hat, hat ja Abhängigkeiten nicht abgeschafft, sondern nur verschleiert und so verwirrt, daß sie niemandem - auch der Politik - noch real nachvollziehbar sind. Damit aber gibt es keine Struktur mehr, die den Menschen verweisen und damit halten würde - unsere Gesellschaft wird zu einem Haufen der Verwahrlosung (der noch mehr "soziale Tat" verlangt ...), und damit, übrigens, zur Beute und Herrschaft der Cleveren und vor allem der Verlogenen.

(Und die Allgegenwärtigkeit der Lüge im Alltäglichen und Zwischenmenschlichen ist bereits erdrückend. Wenn auch jeder Mensch und immer um Wahrhaftigkeit zu ringen hat, in der Denken und Dasein übereinkommen können, ist die Diskrepanz zwischen Tun und Reden heute so schockierend allgemein, daß sie niemandem mehr aufzufallen scheint. Als rechnete man gar nicht mehr mit der Fähigkeit zur Wahrheit, ja mehr, sie ist Gefahr.)

Als letzte Ordnungsinstanz bleibt nur noch anonyme staatliche Willkür, die sich aber im völlig Nebulosen (mit Moralschlagworten wie "Demokratie" für alles und jedes) verbirgt. Mit der logischen Folge der political correctness, die zum kollektiven Entschuldungsmechanismus wurde - denn wer politically correct handelt, ist ganz sicher nicht schuldig am Unbehagen, das doch alle erfaßt hat. Schuld haben immer "andere".

Folge: Alle stehen betrachtend "gegenüber", niemand "gehört zu etwas", was aber das Wesen von Identität wäre, die sogar in ihrem letzten Refugium einer (väterlichen) Idee zugehört. Nur aus der Vaterschaft an sich kann ja die Bezogenheit auf eine normative Idee erwachsen, die einem gegenübersteht, der gegenüber man sich verantwortlich erfährt, und die erst einen überhaupt formen kann. (Weshalb geistliche Väter eben immer "Vater" genannt wurden.) Denn aus sich selbst kann sich niemand formen, die Basis löst sich dort (in der Reflexivität) in sich selbst auf.

Einem allgemeinen "Gegenüberstehen" fehlt jedoch das "Gegenüber", selbst der Gesellschaftskritik die Gesellschaft, die zu einem auch für die Politik völlig undurchdringlichen "Irgendwas" geworden ist, dessen wirklich bewegende Kräfte gar niemand kennt. Dem man nur noch mit Einzelkonstrukten Kontur und Scheinfestigkeit aufzupressen versucht, was man "Ideologie" nennt. (Dugin nennt es "Rassismen".) Nach dem Motto: Besser ein Scheingegenüber, als keines.

Sodaß die Politik sich auf die "Inkompetenzverbergungskompetenz" beschränken muß, weil sie gar nicht mehr anders agieren kann und will, um noch Akzeptanz zu finden, die ihr aber vorausgehen muß. "Uns geht es wie auf einem großen Schiff, auf dem es auf der Brücke nur Touristen gibt, die interessiert die Instrumente betrachten und sagen: Ach, wie interessant!" Aber niemand will es mehr gewesen sein, der einen Knopf gedrückt hat, der etwas ausgelöst hat.

Das ist die eine Seite. Die andere ist, daß dieses Konzept des Autonomismus in der Ausbildung des Selbst gar nicht anders ausgehen kann, als daß sich jeder allen anderen überlegen fühlt. Denn das Selbst läßt sich nur in einem "kat-holon", in einem umfassenden Ganzen und Katholischen verankern. Wenn sich jeder aber gezwungen sieht,  dieses kat-holische selbst zu schaffen, und in sich zu verankern, kann dieses nur festen Boden bieten, wenn es absolut wird. Natürlich - eine Form des "eritis sicut Deus", des "Sein wie Gott". Denn der autonomistische Mensch muß sich selbst Gott sein. Weil er ganz frei ist? Nein, im Gegenteil: er ist Gefangener seines Zwangs zum Selbst, der Notwendigkeit, sich selbst und allein zu erhalten. Die verheerenden Folgen können wir heute perfekt beobachten. (Auch wenn das Ausmaß oft recht beträchtlich schwankt, weil natürlich stark von der jeweiligen wirklichen Sozialisation abhängt. Aber ganz auszunehmen ist hier niemand.)







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