Und so ist heute eine Zunahme (!) der Tabus zu beobachten - keinesfalls eine Abnahme, wie die Fahne der Aufklärung verkünden soll, die immer höher auf die Türme gesteckt wird, die angsterfülltes Dunkel als Sittenwache nach oben mauert.
Liest man gesammelte Theaterkritiken - wie jene Alfred Kerrs, also ein ausgewachsener Linker, wenn man so möchte, was aber (damals noch!) völlig belanglos ist: das fischt man heraus wie die Flachsen aus der Gulyassuppe, die man dann erst recht genießt, denn der Mann verstand was vom Theater, das erfrischt in jeder seiner Zeilen - so zieht ein Zeitalter vor eines Auge vorüber. Und da eröffnet sich die Theaterlandschaft Berlins und Deutschlands der 1920er Jahre in einer Themenfreiheit, die heute unmöglich wäre: da schläft der Sohne mit der Mutter, die ihn gerade mit seinem Schulkameraden erwischt hat, da erschlägt der Sohn den Vater, und der Lehrer den Sohn, da wird Line vergewaltigt, ohne daß ihr Gesicht die pathetische Wirrheit aufziehender Gesichtslähmung aufpflanzt die heute offenbar dazugehört (denn wer vergewaltigt wird, der MUSZ ja irr werden), ja spricht noch ganz normal weiter, und eine Hure besorgt es dem Legationsrat, ohne daß die Anführungszeichen überspielter Regisseure dem Zuschauer bestätigten, daß man schon weiß, wie verwerflich das alles sei. Oder sie flüchten überhaupt in Trash, in die Verulkung, um ganz nahe bei der Fluchttür zu parken.
Es sind nicht neue Tabus, es sind nicht neue Zwänge - nichts hat sich im Menschen geändert, was 1925 gefühlt wurde wird auch heute gefühlt. Aber es sind immer weitgefaßtere, immer zwingendere Mauern, die wir um unsere innersten Antriebe errichten, die wir in einem immer häßlicheren Neo-Puritanismus in immer tiefere Kisten und Keller sperren, anstatt sie vor Augen zu stellen, und zu erlösen - wie es das Theater täte. Während mutterneurotisierte Narzisse (sogar laut WHO-Befund! Narzißmus ist DIE Zeiterscheinung) alles tun, um sich und die Umwelt angesichts die wirklichen Antriebe ihrer Gefangenheiten zu paralysieren, und deshalb den Sklavenställen der Welt freudig beitreten, in der Hoffnung, daß die immer mehr anwachsende Macht der Masse auch ihnen eines Tages die Ketten sprengt.
Wir leiden unter zu viel Freizügigkeit? Nein. Wir leiden unter einem längst krankhaften Moralismus, der um sich zu verbergen lediglich mache Praktiken zu Pflichtübungen des Opfers an die Götter der Vermassung vorschreibt.
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