Schelling schreibt in "Weltalter": "Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit: Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstande Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Gegenwart nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt er nie aus der Gegenwart heraus, lebt beständig in ihr."
Wenn das Internet keine Formen des Vergessens (als: Löschen, als Irrelevanz von Daten) und Abhängens aus der persönlichen Vita findet, seine Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung - ohnabhängig davon, daß diese Strukturen aktualistisch sind, also nur pseudo-persönlichkeitsbildend wirken, weil der Träger der Persönlichkeit, der Mensch selbst, diese nicht besitzt - wird es zum höllengleichen Fluch genau in dem Sinn, wie Schelling schreibt: die Vergangenheit wird uns immer wieder als Gegenwart serviert, sodaß wir nie zu einer Gegenwart mehr kommen, weil wir die Vergangenheit nicht mehr abschütteln können - und damit zu keiner schöpferischen Zukunft mehr gelangen, weil keine Neuanfänge möglich sind.
Und dieses Problem ist keineswegs neu: es findet sich historisch in allen Kulturen, die keine derartigen Mechanismen hatten - in ihren Religionen. Somit findet sich Geschichte in dem Sinn nur bei den (eigentlichen, den "alten", vorchristlichen) Juden (im Sühnopfer im Tempel), und dann bei den Christen, mit dem vergebenden, dabei gegenwärtigen Messias.
Die römische Antike, als Beispiel, hatte keine Vergangenheit. Ihre Vergangenheit war immer gegenwärtig: in den Ahnen, in den Kräften. Ihnen war alles was sich einmal gewirklicht hatte, ewig, war Glanz von der Ewigkeit her, gehörte unverzichtbar zum Wesen einer Sache. Zumindest bis Augustus, schreibt deshalb Curtius, bis zum Gott-Kaiser, der im Grunde eine solche Erlöserfigur war, kannten sie deshalb keine "Epochen": sie haben immer alles Vergangene "mitgeschleppt".
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