Es hat seine Logik, daß bis in die späte Antike hinein der Prophet und der Theologe mit dem Dichter immer wieder begrifflich in eins fiel. Er, der Besuch von den Göttern erhält, ja sich mit ihnen unterhält, kann natürlich aus der Welt heraus am ehesten erklären, welche Gesetze in ihr wirken, und warum sie das tun. Poesie, Dichtung, und Mythologie fiel also über weite Strecken in eins. Homer war also nicht zufällig etwas wie ein Religionsgründer, seine Werke waren auch theologische Bücher. Es gehört eben zum unmittelbaren Wesen des Dichters, transzendent zu sehen, in seinem Schauen alle Wirkmächte des Bildes, der Zeit enthoben, zu sehen. Er sieht den Ausschnitt, den Teil der Welt, und erfaßt ihn für das Ganze. (Insofern gibt es also einen historischen Fortschritt!)
Erst dort, wo dann - wie im Christentum, wie im Islam - ein über der Dichtung stehender Offenbarer auftritt, fallen Dichtung und Theologie durch die eindeutige Autoritätszulagerung (an die Priester bzw. Vertreter der Offenbarung) auseinander, ohne im Einzelfall nicht doch Schwestern zu sein - wie in Dante, dessen Comedia ja zugleich ein Kompendium der katholischen Theologie ist, aber bei weitem nicht nur bei ihm: Dichter und Theologe ist sogar noch bis in unsere Tage, wenn auch seltener, eng verbunden. Nicht zuletzt verschwimmen die Grenzen, auch wenn man den Begriff des Laientheologen mit hereinnimmt. Und es sind gar nicht so wenige - man denke an Chesterton, Haecker, Hügel, Claudel, Jones, etc. etc.
Daß es heute nicht "mehr" sind liegt nicht daran, daß es weniger Dichter gibt, die religiös sind, sondern daß der Begriff des Dichters, sein geistiger Boden, mehr und mehr verdunstet ist. Denn ausdrücklich sind jene auszunehmen, die explizite Religion - nicht Religiosität! - zum Zweck ihres "Dichtens" machen, und so die Kunst selbst zur Verkündigungsgeißel und Kirchen- oder Kulturkampfwaffe verunstalten. Nicht jeder, der Romane oder Gedichte schreibt, ist aber ein Dichter.
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