Der amerikanische Politikwissenschafter Mark Lilla im NZZ-Interview zu den Auswirkungen der Rebellion im arabischen Raum. Ausschnitte hier.
{...] Welche Reaktionen hätte die arabische Rebellion im Irak
gezeitigt, wäre Saddam heute noch am Ruder? Es ist doch interessant,
dass sich besonders die Architekten des Irakkrieges zu diesem Punkt
überhaupt nicht äussern. Donald Rumsfeld hat gerade seine Memoiren
veröffentlicht, in denen er alle Fehler bezüglich des Irakkrieges seinen
Amtskollegen in die Schuhe schiebt, doch bei seinen Auftritten hat er,
so viel ich weiss, über die gegenwärtige Situation kein Wort verloren.
Das Gleiche gilt für die sogenannten «liberal hawks», d. h.
jene liberalen Intellektuellen, die gegen den Vietnamkrieg waren, aber
den Einmarsch in den Irak als Mittel zum Zweck – nämlich zum Sturz
Saddam Husseins – befürworteten. Sie glaubten, das irakische Volk wäre
Amerika dankbar, wenn es den Diktator erst einmal los wäre – was
selbstredend nicht geschehen ist. Diese Leute haben etwas Wichtiges
nicht verstanden: Man kann keine Revolution ohne Rebellen machen. Die
Menschen revoltieren, wenn sie so weit sind. Das ist etwas, das man
nicht forcieren kann.
Was war Ihrer
Ansicht nach der entscheidende Punkt, an dem das Volk die Angst vor den
Machthabern verloren hat – erst in Tunesien, dann in Ägypten und nun in
Libyen?
[...] Wenn es einen aktuellen Konflikt gibt und
erstmals Blut fliesst – und das Volk trotzdem weitermacht. Denken Sie an
den ausserordentlichen Moment, als sich in Tunesien ein Mann in Brand
gesteckt hat oder als die Iranerin Neda Agha-Soltan vor zwei Jahren bei
einer Demonstration in Teheran vor den Augen der Welt getötet wurde. So
etwas hat ein enormes Ansteckungspotenzial. Etwas Ähnliches geschah auch
1968 im Prager Frühling oder 1967 in Deutschland bei der Erschiessung
von Benno Ohnesorg durch die Polizei. [Anmerkung: es ist heute erwiesen, daß die Erschießung Ohnesorgs von einem DDR-/Stasi-Agenten durchgeführt wurde, um eine breite Revoltge auszulösen.]
[Es] ist sehr gut möglich [daß Libyen nach Gadhafi in einem Chaos von Stammesrivalitäten versinken könnte.] Dasselbe gilt ja auch für den Irak oder
Afghanistan. Afghanistan hat Wahlen, doch politische Parteien sind dort
völlig bedeutungslos. Früher trafen sich dort alle Stammesfürsten in
unregelmässigen Abständen zu einer grossen Versammlung, der sogenannten
Loya Jirga, und arbeiteten in langen Verhandlungen Kompromisse aus, mit
denen am Ende alle mehr oder weniger zufrieden waren. Heute spielen
Institutionen wie diese keine zentrale Rolle mehr, aber Afghanistan hat
auch keine funktionierende Demokratie. Das öffnet natürlich Tür und Tor
für Korruption – wie man an Karzais Bruder und seiner Entourage sieht.
Man kann keine Demokratie in einer Stammesgesellschaft errichten –
zumindest ist derlei bisher noch nie gelungen.
[...] Überall in der Welt entstehen derzeit politische Formen, für die wir
keine Begriffe mehr haben. Doch solange wir unsere Vorstellung von
Demokratie sowohl als Standard, an dem alles gemessen wird, als auch als
Beschreibungskategorie benutzen, können wir die Lage nicht adäquat
einschätzen und also auch keine guten Entscheidungen treffen.
[...] Die neuen Medien sind ein Forum, um Protest zu artikulieren. Wirkliche
Macht aber wird von Institutionen ausgeübt. Der Schlüssel zu
Veränderungen ist nicht so sehr die Möglichkeit, der eigenen Stimme
Gehör zu verschaffen, sondern vielmehr die Realisierung der Dinge, die
man will, auch durchzusetzen. Man kann eine Demokratie durch die neuen
Kommunikationswege erhalten und stützen, aber man kann mit dem Internet
keine demokratische Konstitution aufbauen. Das Netz ist eine Kraft für
die Rebellion, kein Garant für Demokratie.
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