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Montag, 1. Februar 2021

Es hält zusammen, was zusammengehört (1)

(Ein Versuch einer systemischen Gruppierung zum Behufe einer Aussage, die sich harmonisch in ein Insgesamt fügt.) Es trifft den Kern der Sache nicht, schreibt Mary Douglas in "The World of Goods", wenn man den Reichtum einer Gesellschaft an deren Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner mißt. Das sagt wenig aus. Vielmehr ist es eine Anzeige für soziale Strukturen, und Reichtum oder Armut entscheiden sich dort. Das setzt in der Tatsache an, daß sich Armut in erster Linie darin ausdrückt (ja, dort verankert ist!), daß der weniger Begüterte an hochfrequente Prozesse stärker gebunden ist. Er hat also weniger Zeit und Kapazität, soziale Kontakte zu pflegen. 

Diese sind es aber, die die Elastizität persönlicher Umstände bestimmt, welche wiederum einerseits dafür maßgeblich sind, ob jemand Rückschläge verkraftet oder nicht. Eine solidarische (also sozial gleiche!) soziale Schichte hängt davon ab, wie gut sie gepflegt werden kann, und das wiederum ist eine Frage der Reziprozität. Das heißt, daß sich Schuld und Schuldeinlösung in einem ständigen Ausgleich, bei gleichzeitigem Aufbau neuer Verbindlichkeiten im nächsten Schritt (einer ist immer "voraus") befinden.

Salopp gesagt bedeutet das, daß jemand dem anderen - dem Schichten-Kollegen sozusagen, etwas Gutes tut, ihm einen Gefallen leistet, bei der Berufslaufbahn hilft, was schon alleine, ja vor allem durch adäquate Information geschieht, hilft bei der Berufslaufbahn etc. Das ist bei wohlhabenderen Schichten nicht nur besser und auf vielerlei Weise möglich, sondern es ist geradezu Merkmal einer sozialen Gruppe. Damit ist erklärt, warum eine wohlhabende Gesellschaft immer auch eine Gesellschaft von großen Gruppen mit hoher Solidarität ist. 

Denn diese Wechselseitigkeit ist bei weniger wohlhabenderen oder gar bei armen Gruppen überproportional eingeschränkt. Und zwar AUCH, wenn sie scheinbar an keinen gravierenden Mängeln leidet. Und zwar NICHT nur an Gütern des eigentlichen Lebensbedarfs, wie man meinen könnte, sondern sogar, wenn sie mit Konsumgütern relativ gut versorgt ist. Weil - siehe oben - sie durch die Art der Produktivität (nicht durch deren Bedeutung am Markt), die die Notwendigkeit ständiger Anwesenheit bedeutet (und das ist mit hoch- oder niederfrequent gemeint).

Reich sein heißt, daß so viel Kredit seitens einer Gruppe zur Verfügung steht, daß Verluste weitgehend absorbiert werden können. Es setzt damit voraus, daß man auf fast verborgene Weise in ein Netz eingewoben ist, das nur schwer zerreißt. Arm sein heißt hingegen, isoliert zu sein.

Die Schichte der Wohlhabende(re)n weist sich in erster Linie dadurch aus, daß deren Mitglieder relativ frei über ihre Zeit verfügen können, wir haben das bereits angedeutet. Das darf man durchaus in weiterem Sinn auslegen, und zeigt, daß man Wohlstand häufig mit anderen Kriterien messen sollte. Es ist dann diese Vielfalt im sozialen Leben, die nicht nur dem Geld, sondern dem Prinzip der Reziprozität innerhalb einer Schichte geschuldet ist. In Gestalt einer Gruppe, die "so und so lebt", und die vor allem eine Gemeinsamkeit hat: In der Möglichkeit, mit ihrer Zeit zu verfahren. Die also nicht kurzfrequent, sondern mittel- oder langfrequent leben kann.

Diese Thesen haben übrigens auch gewisse Nützlichkeit. Denn so kann man dann das Kaufverhalten von Menschen viel besser als mit "Mikrozensusdaten", Zahlen zu Einkommenshöhen und so weiter abschätzen. Denn was Menschen kaufen, hängt nicht einfach mit Geld zusammen. Sondern in den erworbenen Gütern zeigt (nicht: erwirbt!) sich hier Zugehörigkeit, dort ein Willen zur Zugehörigkeit.

Diesem sozialen Standesverhalten (und um das handelt es sich) dienen die Güter, die die Menschen anschaffen. Mit denen aber nicht nur die Erfüllung der zwischenmenschlichen Reziprozität möglich ist, sondern die das Fundament einer ganz wesentlichen Eigenschaft von Identität selbst bedeuten, nämlich der Eigenschaft der Abgrenzung. Glieder einer sozialen Schichte kennzeichnen sich nämlich durch eine bestimmte Art der Güter, die sie kaufen, mit denen sie sozusagen "ihre Umwelt dekorieren." Dazu gehört auch ein bestimmtes "Überschußverhalten", denn im sozialen Umfeld muß immer wieder "in Vorleistung" gegangen werden (können).

Schön langsam wird damit vielleicht begreifbarer was Armut in Wahrheit bedeutet. Nämlich gar nicht in erster Linie die Abwesenheit von notwendigen (kurzfrequenten) Gütern. Sondern die mangelnde Möglichkeit, die Güter selbst das soziale Leben "tragen" zu lassen, und vor allem aber die Vielfalt der Lebensgestaltung durch Güter. Denn die ist es dann, die Differenziertheiten möglich macht. Und die sind wiederum unbedingt notwendig, weil es in keiner wohlhabenden Gesellschaft GROSZE Schichten, dafür aber VIELE Schichten gibt. 

[Beispiel: Ein Unternehmer trifft seinen Freund, der ebenfalls ein Unternehmer (mit ähnlicher Firmengröße, ähnlicher Lebensführungsmöglichkeit) ist. Beide unterhalten sich nun über ihre Leidenschaft für Zigarren aus Kuba und beschließen, einem Club der Zigarrenraucher beizutreten. Der Leser kann selbst weiterdenken, welche Vielfalt sozialer Verbindungen und Verbindlichkeiten sowie welche Folgemöglichkeiten sich aus diesen wenigen Merkmalen bereits ergeben. Denke sich der Leser alleine dieses Beispiel nun für vom Monatslohn (=hochfrequent) abhängige Arbeiter, die abends nach der Schichte im Dorfwirtshaus sitzen und Marlboro rauchen.]

Untersucht man die sozialen Strukturen wohlhabender Länder ist es also vor allem die Differenziertheit und Vielfalt des Sozialen, die auffällt. Die NICHT dem ersten Sektor eigen ist, also dem der Urproduktion (Landwirtschaft, Bergbau etc.)! Diese Vielfalt ist selbst schon dafür verantwortlich, daß sich auch jene differenzierteren Erwerbsmöglichkeiten ergeben, die bereits dem zweiten (Verarbeitung), vor allem aber dann dem dritten Sektor des Wirtschaftslebens (Verwaltung, Lehrerschaft, jedenfalls mit hohem Dienstleistungscharakter) zugehören.

Damit ist ferner nicht nur erfaßbar, woraus das Geistesleben einer Gesellschaft sich charakterisiert. Sondern es zeigt einen weiteren wichtigen Faktor, der für Wohlstand bedeutend ist, und das ist der der Risikoaffinität. Jemand, der einer wohlhabenden Schichte im oben versucht beschriebenen Sinn zugehört, weist nämlich auch eine bei weitem höhere Bereitschaft auf, RISIKO einzugehen. 

Denn der Arme, dem ein Risiko schlagend wird, weil er - sagen wir - einen Betrieb gegründet hat, der aber pleite ging, sodaß ihm sogar Schulden bleiben, kann sich kein zweites Risiko mehr leisten! Er überlegt es sich also dreimal (und das wörtlich) so gut wie der Wohlhabende(re), ob er ein Unternehmen gründet, weil er NUR EINE CHANCE hat. Geht die schief, ist er gewissermaßen für den Rest seines Lebens erledigt. Geht dem Wohlhabenden (mit einem entsprechenden sozialen Netz Gleichgestimmter) ein Unternehmensplan daneben, ist die Wahrscheinlichkeit, daß er sich fängt, ja daß er von seinem sozialen Umfeld aufgefangen wird, sehr hoch!

Morgen Teil 2) Reich sein heißt gar nicht in erster Linie, viel Geld zu haben, sondern in einer Gruppe gut integriert zu sein, die reich ist - Das fulminante Fazit, das es in sich hat.


*260121*