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Sonntag, 31. Januar 2021

Kein Leben außerhalb des Tanzes (2)

Teil 2) Das Schöne ist auch gut. Tanz und Moral sind Geschwister.


Ja mehr noch. Selbst in der nicht menschlichen Natur (etwa in der Tierwelt) läßt sich feststellen, daß jedes Handeln lebender Kreatur in einer gewissen gesetzten Gestaltgebung, also in einer gewissen "Liturgie", einem System von Formen abläuft. Das geht so weit, daß man, wenn man von Instinkten spricht (Henry Fabre hat dazu so wunderbare Beobachtungsschilderungen geliefert), zu nicht geringer Verblüffung feststellt, daß diese Instinkte von einem liturgischen Ablauf nicht nur ausgehen, sondern so sehr davon abhängen, daß das Fehlen der materiellen Bedingungen dazu die Tiere entweder irritiert (ohne daß sie es aber korrigieren könnten), oder ihnen gleichgültig ist. 

Das, was sie zu tun haben, ist zu allererst einen Ritus zu vollziehen, ihre "tierische Kultur" gewissermaßen (die freilich keine Kultur ist, weil sie nicht gesetzt, also frei gewählt ist) zu vollziehen. Ist das getan, sind sie zufrieden. Selbst, wenn das materielle Ziel dabei nicht erreicht ist.** 

Als illustrierendes Beispiel: Bei vielen Schlupfwespenarten (wie bei der Maurerwespe) baut das Weibchen eine Höhle für den Nachwuchs, magaziniert sie (zusammen mit dem Männchen) mit entsprechender Nahrung auf, legt dann ein Ei darauf, und macht diesen Bau wieder zu. Nimmt man das Ei heraus, legt die Wespe kein zweites, sondern vollzieht trotzdem ihre nächsten Schritte im Ablauf, bis zur Versiegelung des Baus. Obwohl der Zweck ihres Tuns nicht erreicht ist. Sie ist nicht in der Lage, in ihren Ritus zurückzusteigen, und noch einmal einen bereits gesetzten Schritt zu wiederholen. Sondern sie geht wie nach einer Aufgabenliste vor, und setzt wie in einem Ablaufzwang einen Ritusschritt nach dem anderen.

Der Mensch ist deshalb völlig anders, weil er nicht nur vom Symbolgehalt seines Handelns auszugehen vermag, sondern weil er in der Lage ist, sein Handeln in einen Bezug auf den letzten Sinn zu setzen. Weil er eine Hierarchie der Symbole zu setzen vermag, in der das Höhere das jeweils Niedere bestimmt, und nicht umgekehrt. Man kann sogar so weit gehen daraus abzuleiten, daß die Richtigkeit (als graduell höchstmögliche Sinnbezogenheit) einer Einzelhandlung sich aus der nach "ästhetischem Gefühl" zu beurteilenden Einfügung in ein Gesamtbild. Daraus werden sogar Begriffe wie Schönheit und Harmonie begreifbarer. 

Der sittliche, der moralische Mensch ist somit immer ein Mensch des Willens zur Schönheit des Insgesamt. Dieser Satz gilt auch im Umkehrschluß. Es ist kein Zufall, wenn die menschliche Überlieferung das Böse dem Häßlichen und Unharmonischen, Nicht-Eingefügten zuordnet.

Kein menschliches Handeln ist aber ein rein technisches Erfüllen eines Zweckes als ihrer eigentlichen Grundlage, sondern dieser "Nutzen" ist eine Frucht eines Setzens von Symbolen als das Erstellen von Gestalten, die in dieser ihrer Gestalt einem umfassenden Gesamtsinn dienen. Der Mensch spielt somit, und er spielt immer! Und die Erfüllung seines Gesamt-Sinnes, des letzthinnigen Sinnes seines Lebens ist aus dem korrekten Befolgen der Form, der Liturgie als Setzen von Gestalten innerhalb einer vom letzten Sinn vorgegebenen Geordnetheit der Gestalten gegeben. Oder nicht. 

Das menschliche Leben, das immer ein Kulturleben ist, ist somit immer ein Tanz. Nicht als gewissermaßen Dekorhaftes, das das rein Materielle, Funktionale bereichern soll (aber an sich unwesentlich ist), sondern das die eigentliche Handlung IST. Der jeder "Nutzen" (der nur vor den Sinnhorizonten als solcher erkennbar ist) lediglich innewohnt.*

Ohne das, ohne Sinn, ohne Symbol, ohne Spiel, ohne Liturgie, ohne Rhythmik (und was immer auch einer harmonischen Gestalt oder einem gelungenen Bilde dienlich sein mag) ist es gar nicht: Kein Mensch kann ohne Sinn, aber auch kein Mensch kann ohne Symbolwelt existieren. Tut er das, lebt er so reduziert, ist er dazu etwa gezwungen (wie in Situationen der Gefangenschaft), ist der Selbstmord naheliegend. In dem er selbst die Welt von nicht der Welt Zugehörigem - und das ist immer die Zugehörigkeit zu einem Sinnsystem als System von Gestalten, von Handlungsschemen, von harmonischen, sinnerfüllenden und sinnbezogenen Bildern - reinigt und befreit. Weil er sich außerhalb einer sinnvollen Gestalt außerhalb der eigentlichen Lebensquellen weiß. Die Quellen des Sinns sind.



*Wir bringen an dieser Stelle die Unterscheidung von Armut gegenüber Elend: Elend heißt die Abwesenheit des Tanzes, der aber hier ein Verzicht - also eine sittliche Handlung - ist. Armut heißt aber die Einschränkung der Tanzschritte, heißt eine Begrenzung der Möglichkeit, den Sinn darzustellen und zu erfüllen.

**Wenn wir die Welt des Lebendigen gleichzeitig in eine Rangordnung stellen, so steht am Sockel dieser Hierarchiepyramide das undifferenzierte Leben, in dem der Teil ohne das Ganze nicht lebensfähig ist. Je weiter die Individualisierung aber festzustellen ist, desto unabhängiger ist der Teil vom Ganzen - ohne freilich zu sagen, daß er das Ganze nicht braucht, also alleine leben soll weil kann. Sondern wo der Teil das Ganze widerspiegelt. Zu dem er sich verhalten kann. 

Was am Vollkommensten beim Menschen der Fall ist. Der sich dabei vom Tier (und noch mehr von der Pflanze) aber nicht graduell, sondern kategorial unterscheidet. Weil er sich im Geist zur geistigen Ordnung, zur Harmonie des Ganzen verhalten und den Teil (also sich in seiner Leiblichkeit) durchformen (was heißt: In Besitz nehmen) kann, beim Menschen sogar: Muß. Weil es zu seiner Natur, zu seinem Wesen gehört. Der Mensch kann sich beim Denken zusehen, er IST nicht sein Denken (wie man Descartes deuten könnte).

Insofern kann NUR der Mensch aber auch aus dem Ganzen, aus der Harmonie des Gesamtbildes herausfallen, indem er seine eigene Gestalt miß-gestaltet. Was er immer dort tut, wo er sündigt, also gegen (und das heißt ohne) den Sinn handelt. 

Die Unterschiede beim Menschen (wie bei jedem Lebewesen) sind einer einzigen Tatsache geschuldet: Der, daß alles Konkrete immer (!) an je einem Ort ist. Welcher wiederum in jeweils anderer Beziehung zu seiner Umgebung steht, und deshalb andere Gestalt annimmt wie erfordert. Kleinste und allerkleinste Unterschiede in den Anfangskonstellationen bewirken (siehe die Thesen des Nobelpreisträgers Henri Poincaré, wenn denn also jemand meint, daß ein Bezug zur "Wissenschaft" Mehrwert in der Erkenntnis bewirke) große in der Endgestalt. Erst in dieser Hinsicht wird begreifbar, was "Massenmensch" bedeutet: Die Verweigerung der Distinktheit des eigenen Ortes. Und das heißt: Die Verweigerung des Tanzes! 

Er bleibt ein Schema, dem "Fraktale" sozusagen eingesogen, ohne sich zur Individualisierung hinauszuheben (was Kraft kostet, und das ist dann ja Tugend: Per Haltung gebündelte, institutionalisierte Bewegungsrichtung) denn da würde es um Arscherl ziehen. Und das möchte der sozialstaatsverstörte Mensch eben vermeiden, genau das wurde und wird ihm ja aberzogen. Durch Formvermeidung, -zerstörung wie -verhinderung. Durch Gesetze. So formt sich eine Gesellschaft und mit ihr eine Kultur ihre eigene Zerstörung. 


*260121*