"Auf dem Festland essen sie Menschenfleisch. Sie sind mehr als irgendein anderes Volk unzüchtig. Gerechtigkeit gibt es bei ihnen nicht. Sie gehen ganz nackt, haben keine Achtung vor wahrer Liebe und Jungfräulichkeit und sind dumm und leichtfertig. Wahrheitsliebe kennen sie nicht, außer wenn sie ihnen selbst nützt. Sie sind unbeständig, glauben nicht an die Vorsehung, sind undankbar und umstürzlerisch. [...]
Sie sind gewalttätig und verschlimmern dadurch noch die ihnen angeborenen Fehler. Bei ihnen gibt es keinen Gehorsam, keine Zuvorkommenheit der Jungen gegenüber den Alten, der Söhne gegenüber den Vätern. Lehren wollen sie nicht annehmen. Bestrafungen nutzen bei ihnen nichts. [...]
Zu ihren Speisen gehören Läuse, Spinnen und Würmer, die sie ungekocht essen, wo sie sie nur finden. Wenn man sie die Geheimnisse der wahren Religion lehrt, erklären sie, diese Dinge paßten für die Spanier, aber für sie bedeuteten sie nichts, und sie seien nicht bereit, ihre Gewohnheiten zu ändern. [...]
Ein je höheres Alter diese Menschen erreichen, desto böser werden sie. Wenn sie zehn oder zwölf Jahre alt sind, glaubt man noch, sie besäßen einige Höflichkeit und etwas Tugend, aber später entarten sie wahrhaft zu rohen Tieren. Ich kann versichern, daß Gott kein Volk je erschaffen hat, das mehr mit scheußlichen Lastern behaftet ist als dieses, ohne irgendeine Beigabe von Güte und Gesittung. [...]
Nein, das ist keine zeitgenössische Kritik und Anklage, und es stammt auch nicht aus den späten Tagen der Antike. Es ist einem Schreiben des Dominikanerpaters Tomas Ortiz entnommen, in dem er Mitte des 16. Jahrhunderts von dem Indianerrat in Madrid berichtet.
Die Diskussion im 16. Jahrhundert hat zwei elementare Seiten. Die eine ist, daß den Indianern auf Drängen der Kirche (Spanien hat in Philipp II. und seinem Vater Karl V. sehr fromme Könige) jedes Menschenrecht zugestanden wird. Eine Sichtweise, die vor allem gegenüber den stets sehr individuellen Charakterdefiziten der Soldaten mit unerhörter Strenge angediehen wird, so wenig sie denen auch gilt. Sie verfahren furchtbar mit den Menschen, denen sie überlegen sind. Meist unter enormem Schuldendruck, aber das rechtfertigt nicht den oft genug unfaßbaren Wahnsinn, der angerichtet wird. Die meisten sind aber, sobald sie in der Neuen Welt angekommen, bis über beide Ohren verschuldet, und wollen weil müssen aus den neuen sozialen Umfeldern herauspressen, was sie herauspressen können. Der Traum vom Reichtum ist für die allermeisten schon ausgeträumt, da haben sie noch kaum den Fuß auf den Strand der Neuen Welt gesetzt.
Aber da ist auch eine Sichtweise, die sich durchsetzt, und die tiefere Verankerung und Legitimation hat: Die Betrachtung der Indianer als Kinder, denen gegenüber man als Vormund handeln muß. Der Dominikaner Vitorio, der an sich nicht nur als Vater des Völkerrechts angesehen wird, sondern der auch als "Retter der Indianer" eingestuft werden kann, schreibt dazu:
"Obwohl diese Barbaren nicht gänzlich ohne Urteilskraft sind, unterscheiden sie sich doch sehr wenig von den Schwachsinnigen. [...] Es scheint, daß für diese Barbaren dasselbe gilt wie für die Schwachsinnigen, denn sie können sich selbst nicht oder kaum besser regieren als einfältige Idioten. Sie sind nicht einmal besser als Vieh und wilde Tiere, denn sie nehmen weder feinere noch kaum bessere Nahrung als diese zu sich." [Ihre Dummheit] "ist viel größer als die der Kinder und Schwachsinnigen anderer Völker."
Somit, schließt Francisco de Vitoria, ist es rechtens, in diesen (neuen) Ländern zu intervenieren. Denn damit kann eine Vormundschaft ausgeübt werden, die im Sinne des Gemeinwohls dieser Menschen, dieser Völker und dieser Welt notwendig ist.
Der VdZ schreibt dies alles und an dieser Stelle nicht ohne Grund. Denn er sieht dies als nüchterne Bestandsaufnahme der Gegenwart, und damit auch als Menetekel dessen, was uns Abendländern dräut. Wir werden von stärkeren Mächten übermannt werden, so einfach muß man das sehen. Und das läßt unsere Zeit mit der des Spanien des 16. Jahrhunderts so ähnlich sein.
Zumalen auch die Mächte, die uns überwinden (und darin ist alles nur noch eine Frage der Sichtbarkeit, nicht der Wirklichkeit) mit demselben Argument ihre Legitimation holen wie haben: Sie stehen Kindern gegenüber, die keine Tugend mehr haben, und sich zum Bösen entwickeln.
Wir leben (dazu könnte man es komprimieren) inmitten einer sozialen Umgebung, in der der Nächste, ja wo jeder jeden der ein "anderer" ist, der also noch das hat, was man "Geheimnis" nennen könnte, der in jedem Fall aber "nicht ist wie wir", so betrachten, wie die Spanier des 16. Jahrhunderts die Indianer der Neuen Welt.
Der springende Punkt ist aber der: Nicht, daß das etwas Neues wäre. Das gehört vielmehr zum Menschsein dazu, daß der Mensch das Menschsein von sich ausgehend ableitet. So wie Erkenntnis immer von sich ausgehen muß, sonst kann sie gar nichts erkennen.
Der springende Punkt ist, daß es keine Gemeinsamkeiten als Gemeinschaft mangels einheitsbildender Macht der Wahrheit mehr gibt. Damit ... keine Freiheit mehr gibt. Daß somit alles, was sich heute als Gemeinschaft ausgibt, als Einheit, nur noch positivistisches, selbst- bzw. psyche-generierte Willenshaltung, Vorstellung, verpflichtende und verpflichtete Selbsttäuschung ist.
Diese Sichtweise, daß der andere "Wilder", "Indianer" ist, die - man schaue doch einfach genau hin! - so allgemein ist, daß man nicht weit suchen muß, weil sie hinter jeder Straßenecke hervorlugt - ist der wahre Grund für die Bevormundung, die wir in Medien, Politik, ja von so vielen und noch vieleren Stellen an uns getan wird.
In einer Zeit gesagt, in der bald jeder jeden zu erziehen sich ankleidet, worin die Aussage doch mehr als deutlich wird, daß der GENERELLE Zustand der Menschen als so roh und barbarisch gesehen wird, wie die Spanier den Zustand der Indianer in der Neuen Welt beurteilt haben. Was bis zur Beurteilung der Nahrung geht, die wir zu uns nehmen.