Es war den alten Griechen außerordentlich wichtig, in einer Welt zu leben, in der der Überblick für den Einzelnen nicht verlorenging, schreibt Robert von Pöhlmann in seiner faszinierenden Untersuchung über die Überbevölkerung in antiken Großstädten. Eine Stadt durfte nur so groß sein, daß sie für ihre Bewohner eine gewisse Familiarität nicht verlor. Die Versammlungsplätze mußte alle umfassen können, Kultplätze allen Einwohnern Platz bieten, die Baulichkeiten für alle überblickbar und damit bewohnbar bleiben, die Märkte, die Theater - alles mußte allen vertraut und als Teil ihres Lebens integrierbar bleiben. Die Stadt konnte nur so ein für alle überblickbares Ganzes bleiben. Und nur so konnte auch ihre Demokratie funktionieren: in der Verwurzelung ihrer Bewohner, aus der alleine auch Verantwortungsgefühl und -interesse sowie Solidarität erwächst, weil alles alle direkt angeht. Bedeutung, Rang, Ansehen, Ehre blieb so im Gesamtmaß der Persönlichkeit verankert, und nur darauf kann sich die Einschätzung etwa bei Wahlen beziehen.*
Überstieg die Bevölkerung eine gewisse Größe, so verlor sich dieser Überblick, und eine anonyme Masse entstand, die den Griechen ein Greuel war - zumindest, so lange ihre Kultur und ihre politische Macht nicht im Niedergang war. Also war es notwendig, daß ab dieser Grenze eine Neugründung initiiert wurde. Ein Teil der Bevölkerung verließ die Stadt, um eine neue zu gründen. Entweder weit weg, um als immer aber eng verbundene Kolonie zu bestehen, oder aber auch in unmittelbarer, manchmal sogar direkt anschließender Nähe - doch als eigene Einheit! Für Athen hieß das, daß es in der Antike nie mit dem Hafen Piräus zusammenwuchs, obwohl es mit einer Mauer verbunden war. Beide "Städte in der Stadt" nahmen einen je ganz eigenen Charakter durch die Bevölkerung an.
Die Baugeschichte Neapels spiegelt es als ebenso wieder. Eine Stadt folge der anderen, jeweils fast direkt vor den Toren der alten neu gegründet (Neo-polis = Neustadt). Das große Syrakus wurde sogar als "Fünfstädte-Stadt" bezeichnet, denn das Wachstum griechischer Städte fand nicht wie bei einem Baum statt, der Ring um Ring ansetzte. Sondern durch Ausgliederung und Neupflanzung.
Die Griechen hatten in ihren Blütezeiten jenen vermassenden Zentralismus immer abgelehnt, den sie vor allem bei ihren östlichen, asiatischen Nachbarn sahen und verachteten. Deshalb hatten sie auch nie eine Reichsverfassung ausgearbeitet, sondern immer nur je städtische Verfassungen. Eine Großstadt im heutigen Sinn, aber auch im Sinn der Antike, gab es in Griechenland nie. Großstädte wie Babylon. Das so groß war, daß die Bevölkerung des einen Endes erst Tage später von der erfolgten Einnahme der Stadt durch Feinde hörte. Solche Städte setzten Zentralismus voraus. Und solche Städte produzierten anonymes Proletariat. Und in solchen Städten entstanden soziale Probleme einer neuen und abstrakten Art, wie sie griechischen Städten unbekannt geblieben waren.
Denn die Bedeutung des Individuums mußte in solchen Städten zwangsläufig verloren gehen. Stattdessen zählten ganz neue und technische Kriterien, die direkt mit der Nähe zur Zentralverwaltung zu tun hatten. Die Größe und Weite der Persönlichkeit, Kriterium für Adel, wurde nicht nur unbedeutend, sondern sogar hinderlich, weil weite Persönlichkeiten unvereinbar damit sind, sich in Spezial- und Partialnützlichkeiten zu neurotisieren. In solchen Städten etnstand also auch eine neue völlig Art von - unadeliger - Elite. Funktionsbedienung braucht keine Tugend, die ist sogar hinderlich. Denn jede Maschine, jeder Mechanismus verlangt das Gegenteil: Die Unterordnung unter ihre Ablaufzwänge.
*Simone Weil, und natürlich nicht nur sie, hält deshalb die in Parteien vorgeblich berechenbarer werdende Massendemokratie Europas für einen schweren Irrtum. Sie in der Antike zu begründen ist und war eine glatte Lüge. In Wahrheit wählen die Menschen heute etwas, das sie gar nie kennen können. Aber vor allem deshalb müssen Parteien verboten werden, schreibt sie, weil sie die Art der Entscheidung von den Personen weg auf eine Scheinlogik verlagern. In Wahrheit ist kein Wähler in der Lage, sachliche Probleme der Politik zu beurteilen, um die es angeblich gehe, vor allem aber wird das Prinzip der persönlichen Verantwortlichkeit von Politikern völlig unterspült. Politik wird "abstrakt-sachlich, richtig", statt verantwortlich und gerecht. Das setzt ein mechanistisch-materialistisches, ja atheistisches und damit wirklichkeitsfernes Menschen- und Weltbild voraus. Die moderne Massendemokratie entwirklicht die Menschen!
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