Einen sehr interessanten Ansatz zu einem Luther-Verständnis stellt hier Pfr. Hans Milch vor: Er geht davon aus, daß Martin Luther - ein genialer, vielseitigst begabter Mensch - bereits in einem Irrtum aufgewachsen ist. Er wurde in seinem theologischen Studium im Nominalismus geschult, und weil dieser bereits ein Irrtum ist - er bestreitet die apriorische, geistige Wesenserkenntnis der Welt, worauf die These der Unerkennbarkeit Gottes folgt, der damit zu einem Willkürgott wird -, ist ihm die katholische Theologie nicht mehr aufgegangen.
Der erste Durchbruch in Luthers Geistesleben sei sogar eigentlich noch ein Durchbruch zum Katholischen gewesen - in der Erkenntnis, daß sich der Mensch die Erlösung nicht verdienen könne, sondern daß diese Erlösung ungeschuldete Gabe Gottes ist. Das ist nur durch die Zusage Gottes wißbar.
Doch nun wollte Luther auch dafür, für diese moralische Sicherheit (die dritte Stufe der möglichen Sicherheiten; die erste ist die metaphysische, logische Sicherheit - es gibt einen Gott; 2+2=4; die zweite ist die der physischen Sicherheit - morgen wird die Sonne aufgehen -,) ebenfalls die völlige Sicherheit er absoluten Stufe. Und ab hier verläßt der zweifellos neurotische Luther den Katholizismus, ab hier wird er hysterisch. Denn für die Liebe, die Treue (sieh: zwei Eheleute) gibt es keine absolute Sicherheit, sondern nur eine des Vertrauens. Eine höhere als eine moralische Sicherheit kann es in Heilsaussagen aber nicht geben. Und in dieser Stufe ist die moralische Sicherheit dynamisch - sie ergibt sich z. B. in der Treue der Eheleute aus der Reife der Liebe. Hysterisch-neurotisch ist, wenn der eifersüchtige Ehegatte eine "absolute" Sicherheit für diese Treue möchte.
Dieses Vertrauen, diese Liebe muß also lebendig gehalten werden, nur insoweit gibt es Sicherheit. Kein Standesamtsbeschluß, keine unterzeichnete Eheurkunde kann diese Sicherheit für sich schon geben. Weder also kann man von einer absoluten Sicherheit hier ausgehen, noch kann man sie anstreben - man kann nur vertrauen, und dieses Vertrauen wächst (oder schwindet) durch den Umgang miteinander.
Mit dem Glauben ist es ähnlich. Auch er erfordert die Dynamik des Verhältnisses zweier "Du". Und dort ist Luthers Problem: Er kommt zu dem Schluß, daß Gott ihn zum Heil ZWINGT. Milch vergleicht es mit dem Fall von Hörigkeit von Frauen gegenüber Männern. Die eine Reaktion auf die Unmöglichkeit ist, den Mann zu bezwingen sodaß sie ihm vertrauen könnte. Also sucht die Frau einen Weg, ihn dennoch an sich zu binden, und das tut sie, indem sie sich ihm bedingungslos fügt. So entsteht ebenfalls eine, wenn auch ungenügende, irrtümliche, mangelhafte Art von Bindung als Zwang. Wenn die Frau den Mann schon nicht zwingen kann, so sucht sie im Umkehrschluß ihn dadurch zu zwingen, indem sie sich in ein unmittelbares Reaktionsverhältnis setzt: wenigstens soll er "eifersüchtig" sein, weil sie ihm nicht folgen könnte. Auch der Gefängniswärter ist auf eine Weise ans Gefängnis gebunden, nicht nur der Gefangene! Eine trügerische Scheinsicherheit also, ein pathologischer Selbstbetrug. (Der VdZ hat sich hier schon einige male zur Hörigkeit in ähnlicher Weise geäußert, denn sie wird meist als "überzogener Gehorsam" gedeutet, und das ist vollkommen falsch.) Die beabsichtigte Leistung ist, daß der Mann - im Beispiel - die "Situation annimmt", das ist das Ziel. Der Hörige will also erreichen, daß sie Situation des verbindlichen Zueinander bleibt.
Und in diese (pathologische) Richtung, so Milch, sei auch das "Beugen Luthers in Gottes Willen" hineinzuverlängern. Luther sieht darin einen Weg, "Gott zu zwingen". Wer auf Gott "vertraut", den wird Gott mit seiner Heilszusage nicht enttäuschen, sozusagen. Das führt mit unausweichlicher Konsequenz bis hin zum Auserwählungsgedanken Calvins, der aus der Lebensführung des Menschen Rückschlüsse zieht auf dessen Auserwähltheit: Wer reich und tüchtig und sittlich ist, der "hat" gewissermaßen die Auserwählung. Daraus folgt ebenso zwingend die Prädestinationslehre, die Vorbestimmung für die Menschen, ob sie in den Himmel kommen, oder verdammt sind. Man tut dann Gutes, weil man in den Himmel kommt, nicht umgekehrt.
Aber so weit geht Luther nicht, da lebt in Luther noch zu viel katholischer Stoff. Er hat dazu auch einfach zu wenig Konsequenz, und das ist in dem Fall ein Glück. Er erklärt den Willen nicht zu sündigen selbst schon zur Sünde, weil er davon ausgeht, daß man auch ohne Gnade nicht sündigen kann. Das Heil hängt überhaupt nicht von der Sünde oder Nicht-Sünde ab. Indem Gott den Menschen "annimmt" (im Beispiel zu bleiben: indem er die GefängnisSITUATION annimmt) "zwingt" er den Menschen zum Heil oder Nicht-Heil. Das einzige, was der Mensch also dazu beitragen kann ist, auf diese "Gefängnis-Situation" zu vetrauen - also "zu glauben", "Gewißheit" verbindlich und treu anzunehmen, egal was man tut. Wer sich in Gott geborgen "weiß" (=wähnt), den wird Gott nicht enttäuschen.
In diesem Vertrauensakt steckt natürlich erneut ein Stück Katholizität. Auch hier soll der Mensch vertrauen. Bei Luther aber wird dieser Akt zu einem rein (!) subjektiven Akt zu leistender Hingabe (Hacker nennt ihn DAMIT psychogen), worin Hoffnung und Liebe auf eine Art verschmelzen. Er sieht nicht den kosmischen Aspekt des Glaubens, sondern nur den subjektiv-schicksalshaften. Gute Werke folgen dann rein aus Dankbarkeit, nicht aus dem Willen "gut" zu handeln, der wäre ebenfalls bereits Anmaßung.
Der Katholik aber will das Wohl des Geliebten - Gottes. Er will ihm ähnlich sein. Die gute Tat folgt also aus dem Glauben und der Liebe, folgt also aus der Erlösung und dem Willen, folgt aus der Vergöttlichung aus dem Eintauchen in Gott selbst (in Jesus Christus), der in der Gnade auch den Willen verwandelt. Das ist ein gestalthaftes, fleischlich-reales Zueinander, mehr also als eine reine "Beziehung" wie bei Luther. Dem Katholiken ist die Gnade ein Akt der Verwandlung, Gott nimmt den der es will in sich hinein.
Damit werde ich in meiner Seele mit einer neuen Eigenschaft versehen, gewinne in der Analogie eine göttliche Beschaffenheit. So, wie ein Schwamm das Wasser aufnimmt und damit die Eigenschaften des Wassers in sich aufnimmt. Der Schwamm bleibt ein Schwamm, aber er hat zusätzliche Eigenschaften, ich werde Gott ähnlich. Damit kann ich wollen, was Gott will, denken was Gott denkt, wissen was Gott weiß - "eingeweiht" sein. Das ist Glaube, Hoffnung und Wille. Alles aber muß durch das Vorzimmer des freien Willens, der freien Zustimmung des Menschen.
DARAUS, aus dieser Verwandlung (in der wir wir selbst bleiben!) können dann Verdienste entstehen. Obwohl wir uns nie sicher sein können, ob wir "guten Willen" haben, weil wir einfach als Menschen zu zweifelhaft und brüchig sind. (Daraus folgt übrigens dann die Sichtweise der Aufklärung, daß der Mensch ALLES aus Eigennutzen macht, die sich dann im Evolutionismus zur Welterklärung steigert; Anm.) Keine Psychoanalyse kann uns uns selber wirklich erkennen lassen.
Deshalb sind wir immer auch "Bettler", immer nur innigst Flehende, des Heils unsicher, immer erbarmensbedürftig. Wo wir aber (weil IN der Wahrheit - Gut ohne Wahrheit ist nicht möglich) Gutes tun können bzw. tun, tun wir es aus einem SEINSZUSTAND, und insofern ALS WIR SELBST. Also sündigen wir also auch immer wieder im Gleichen - unserem Seinszustand eben entsprechend. Besser werden wir nur im Sein, nicht (primär) im Verhalten, das Verhalten folgt aus dem Sein, ohne uns je gewiß sein zu könne, daß wir "gut" sind. Umgekehrt haben aber auch wir alle damit Jesus Christus ans Kreuz geschlagen! Und in dieser Gemeinschaft werden wir in unserem Sein erlöst, weil Christus (immer neu, immer aktuell, weil außerhalb der Zeit) für unsere Sünden vor Gott Vater sühnt, er nimmt diese unsere Sünden je neu auf sich.
Das sieht Luther nicht recht anders, bis zu einem Punkt, den er übersteigert: Dem unserer eigenen Fragwürdigkeit. (Also auch hier das Gesunde im Kranken.) Und deshalb leugnet er überhaupt die Eigenwirkung des Menschen. Das Gute, das der Mensch tut, liegt nur an Gott, er selbst merkt es gar nichs, sonst würde es bereits Eitelkeit, Pharisäertum. Weil also der Mensch nichts beitragen kann, braucht sich der Mensch auch gar nicht mehr anzustrengen - einmal gerechtfertigt, immer gerechtfertigt! Der Mensch wird geschnappt von Gott, weil er sowieso nichts aus eigenem Willen tun kann, und damit paßt alles.
Das ist dieses berühmte und gar so heutige "Naja, so schlecht bin ich ja doch gar nicht; freilich, hier und dort ein wenig daneben, aber im großen Ganzen ...!", ja daraus folgt sogar die kennzeichnendste Pose der Gegenwart: der Gutmensch, der Mensch, der sich für gut hält. Kein Linker, der sich nicht für gut hält.
Daraus ist schließlich auch zu verstehen, warum Luther im Laufe seines Lebens immer mehr auf jederlei Selbstzucht und -gewalt verzichtete. Ob im Essen und Trinken, oder in seiner Ausdrucksweise (obwhl er sich darin von den Gewohnheiten der Zeit nicht sehr unterschied), vor allem aber auch in der immer größer werdenden Unflätigkeit, mit der er den Papst beschimpfte. Getreu dem Spruch: Sündige was Du willst, aber glaube, dann bist Du gerettet. Tue was Du willst, Dir kann nichts mehr passieren.
Das knüpft auch an Luthers Erbsündebegriff an, und läßt sich vor allem aus seinem Nominalismus heraus begreifen. Denn weil er nicht in Seinsbegriffen denkt (denn Begriffe sind ihm ja nur Nomina, nur menschlich vereinbarte Namen ohne Sein dahinter), weil er nicht ein den Erscheinungen vorausliegendes Sein zu denken vermag, ist er überzeugt, daß der Mensch bis in die Tiefe seines Seins hinein unüberwindlich (weil er aus sich heraus nichts beitragen kann, den Willen s.o. nicht kennt) verderbt ist. Er hat überhaupt keine Chance, denn mit der Erbsünde ist sogar alles Welthafte des Teufels (womit wir bei der Grundlage des Raubtier-Kapitalismus sind). Die Gnade Gottes kann an nichts mehr anknüpfen, nichts in der Welt ist mehr gut. Damit wird die Gnade ein allein von außen kommendes Werk, das nicht ins Sein des Menschen hineinwirkt (woraus die Wertlosigkeit der Liturgie, folglich auch überhaupt der Kunst erwächst), sondern in dem Gott den Menschen aufgrund der Verdienste Jesu TROTZ der TOTALEN menschlichen Verderbtheit annimmt.
Anders im Katholischen, wo das Sein (und damit die Welt) immer insofern "gut" ist, sodaß Gottes Gnade darein wirken kann, soweit sie IST. Mängel, Fehler sind immer ein Mangel im Sein, die in carnatio - also: im Welthaften, im Fleisch, real, konkret - zu beheben und zu ersetzen die eigentliche Erlösungstat ist.
*110117*