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Samstag, 21. November 2020

Dem zarten Empfinden von Frauen und Kindern angepaßt

Es gab noch vor einigen Jahrzehnten den Begriff der Bowdlerisierung (Bowdlerization). Heute versteht den wohl noch kaum jemand.

Er stammt ursprünglich aus dem Englischen. Und geht zurück auf eine Shakespeare-Ausgabe eines gewissen Thomas Bowdler, die im 19. Jahrhundert unter dem Titel "The Family Shakespeare" die Werke des Dramatikers Frauen und Kindern "angepaßt" präsentierte.

Bowdler hat darin alle das (bzw. sein) Sittlichkeitsgefühl anrührenden Stellen und Konstellationen geglättet, um sie dieser Zielgruppe anzupassen, ohne diese zu zerrütten oder zu verstören. Ophelias Tod war da etwa kein Selbstmord, sondern ein Unfall.

Zur Erinnerung: Ophelia ist Hamlets Geliebte. Sie läßt sich von ihren Verwandten (Laertes!) überzeugen, daß Hamlet sie nicht wirklich liebt, sondern nur ihre Liebe zu ihm (die durch Hamlet offenbar erwidert wird, zumindest beteuert er sie mehrfach) zu erotischen Zuwendungen ummünzen will. Von selber wäre Ophelia freilich nie darauf gekommen, denn ihrer Wahrnehmung nach war Hamlet in seinen Liebesschwüren ehrlich. Doch das Säen des Zweifels hat Erfolg, sie kann Hamlets Verhalten nicht mehr deuten, wird verwirrt, und endet im Selbstmord.

Mittlerweile gibt es kaum noch aktuelle Neuauflagen alter Literatur, egal ob für Kinder oder Erwachsene, die nicht sprachlich "bereinigt" und "heutigem Sittenbedürfnis" angepaßt wurde. 

Die Parallele zur politically correct Sprachreinigung, wie sie heute stattfindet, ist für den VdZ augenfällig. Der Leser möge die Aussage daraus selber bilden.

Franco Moretti zieht in "Der Bourgeois" aber noch eine andere Parallele. Er sieht in der Erzählart sowohl von Charles Dickens wie der Hollywoods in Repräsentanten wie Stephen Spielberg analoge Vertreter genau dieser moralischen, angepaßten Erzählweise. Und es ist seines Erachtens nach sehr bezeichnend, daß sie allesamt Geschichten erzählen, die sich gleichermaßen an Erwachsene wie an Kinder richten.  

Sowohl Anti-Intellektualismus wie auch der Nützlichkeitsaspekt für die aktuelle Sicht und Dringlichkeit der Bildungspolitik, meint Moretti, kämen darin zum Ausdruck. Die penetrante Allgegenwart von Worten wie "heute" oder "einst", die sich darin finde, zeige eine nur dünn übertünchte Verachtung für die kritische Auseinandersetzung mit menschlichen Gedanken und Gefühlen.



*191020*