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Sonntag, 1. November 2020

Vom Preis und vom Schenken

Die wichtigste Funktion des Potlatch, diese bei so vielen Völkern zu beobachtende "Orgie des Herschenkens", der die Abendländer scheinbar so fremd gegenüberstehen*, könnte man fast übersehen, schreibt Marcel Mauss in "Die Gabe". Es ist die ständig wieder erinnerte, etablierte Hierarchie zwischen Häuptling und Vasallen und deren Dienern. Aber keineswegs aus "niedrigen Motiven" des bloßen Übertrumpfens, und schon gar nicht, um jemanden zu beschämen.**

Dieses Herschenken, das manchmal bis zum Selbstruin geht***, geschieht vielmehr aus höchst edlen, moralisch hochstehenden Beweggründen. Denn Geben heißt, (moralische) Überlegenheit, moralischen Hochstand durch die Fähigkeit zur Selbstüberschreitung zu beweisen, also magister zu sein. 

Annehmen ohne zu erwidern hingegen heißt, sich unterzuordnen, minister zu sein, tiefer zu sinken, Knecht und Gefolge zu werden.

Was dieser Ansatz (deshalb) an Kraft hat, die Ehe und ihre Stellung in der Gegenwart zu erhellen, werden wir noch zeigen.  


*Was so formuliert gar nicht stimmt. Denn auch bei uns war nicht nur, sondern ist ein Treffen, bei dem das Herschenken im Mittelpunkt steht, noch viel häufiger und lebendiger als man meinen könnte. Denn wenn sich die Verwandten zu bestimmten Anlässen treffen (mal mehr, mal weniger) und einander beschenken, so finden sich alle die Potlasch-Elemente genau so, wie sie bei den "Naturvölkern" üblich waren oder nach wie vor sind. 

Auch darin, daß man nicht nur schenkt, sondern dieses Schenken eine unausgesprochene (oft sogar unbewußte) wechselseitige Verpflichtung ist. Es "bedeutet etwas", wenn man jemandem nichts (oder etwas) schenkt. Und man fühlt sich verpflichtet, ein Geschenk mit einem Gegengeschenk zu erwidern.

**Deshalb schenkt man auch nicht einfach "so", sondern es gehört zur Kunst des Gebens, den Beschenkten nicht zu beschämen, sondern ihn möglichst in der Hingabe zu übertreffen, diesem eigentlichen Geschenk. Das heißt, daß der Beschenkte durch ein Gegengeschenk in der Lage sein muß, einer durch die Gabe moralisch entstandenen Verpflichtung (!) durch ein Gegengeschenk zu begegnen. Das aber wiederum nach seinem Stand (als Ort in der Hierarchie) bemessen sein muß.

Um das auf die Schnelle zu überprüfen, möge der Leser doch die Gegenprobe machen und sich ausmalen, wie man sich verhält, wenn jemand Geschenke nie entgegnet.

Auch wenn man (angeblich) nicht gerne hört, daß Geschenk mit Gegengabe zu tun hat, so sind sogar die Bedenken unangebracht, in diesem Zusammenhang das Wort vom "bezahlen" oder vom "angemessenen Preis" in die Runde zu werfen. (Was bis zum Wesen von Geld fortzudenken ist, darüber ein andermal mehr.) 

Denn darauf geht das zurück, was wir heute als ... Wirtschaft, als Angebot und Nachfrage, als Preis und Wert etc. bezeichnen. Praktisch das gesamte Wirtschaftsvokabular hat in Wahrheit eine in der "bloßen" Zwischenmenschlichkeit und deren sozialer Kommunikationstonleiter seinen Ursprung.

So nebenbei stoßen wir hier auf die Gründe für die Tatsache, daß es heute sowohl an der Fähigkeit zu schenken, Geschenke anzunehmen und dem Problem mangelnder Dankbarkeit zu mangeln scheint. Es hat damit zu tun, daß in einer Epoche, in der Identität mangels sozialer Institutionalisierung und Einordnung (was sogar Grundsatz der Pädagogik wurde) nicht mehr besteht, ist jedes Geschenk "bedrohlich" und muß zum "Recht" werden. Das betrifft auch die "Sozialleistungen".

***Sogar das ist in unseren Ländern alles andere als unbekannt. Man denke an ein Hochzeitsfest! Das keineswegs nur bei (zugewanderten) Türken eine wahre Geschenkorgie ist, die so manches Ausrichters reguläre wirtschaftliche Potenz deutlich übersteigen. Und zwar bei den Ausrichtern (Brautleuten bzw. Brauteltern) wie bei den Gästen.



*081020*