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Freitag, 27. November 2020

Wie war das noch mit der abendländischen Tradition?

Es ist durchaus amüsant (und auch David Graeber findet das in "Schulden. Die ersten 5.000 Jahre"), daß die Tradition der völligen Verschleierung der Frau in der Öffentlichkeit und in Anwesenheit von Männern nicht nur ins alte Assyrien zurück reicht, sondern daß er sich im antiken Athen, diesem angeblichen Ursprung des heutigen demokratisch-freiheitlichen Bewußtseins und damit der Gleichberechtigung der Frau (und was für Schmonzes sonst noch unter diesem Label unter Leute und Häute getrieben wird) bereits spätestens im 6. Jahrhundert vor Christus nachweisen läßt. Das gilt heute als gesicherte Erkenntnis der Disziplinen der Altertumsforschung.

Ja, während sich die Vollverschleierung der Frauen im übrigen Vorderen Orient der früheren Zeiten so gar nicht allgemein durchsetzte, war es ausgerechnet das demokratische Griechenland, in dem die unverschleierte Frau als Prostituierte, zumindest als Frau ohne Ehre galt. Ausgegangen war nach allen Befunden diese Sitte von den sittsamen Frauen der Adeligen und Noblen. Allen also, denen das Einfache, Schlichte und Unprätentiöse, die Schönheit des Rituellen, die Gelassenheit des Ruhens in der göttlichen Vorsehung Ideal und Vollkommenheitsmerkmal war. 

Unter Sokrates war es sogar üblich, daß sich die Frau, die auf sich hielt, zu Hause einschloß und sich nie in der Öffentlichkeit - zumindest nicht voll verschleiert - zeigte. Frauen, die am öffentlichen Leben teilnahmen, galten als Prostituierte oder dieser gleichwertig.

Wie anders war das doch als in den Gesellschaften in Syrien oder Persien. Wo sich die Verschleierung zumindest in vergangenen Zeiten so gar nicht durchsetzte. 

Diese Noblen aus griechischem Adel und peloponnesischer Heldenschaft waren bekanntlich auch die Gegner der schnöden Geldwirtschaft, die vor allem bei den Unedlen, den Armen, den weniger Sittlichen und Profanen mehr und mehr an Boden gewann. Geld auch nur anzufassen galt den einen als unedel und beschmutzend, den anderen war es unerläßliches Ziel allen Strebens. Es war ein Symbol der Erniedrigung, der Ehr- und Würdelosigkeit. 

Der Ehrenhafte zählt und rechnet nicht.
Die Lebensweisen, die Moden, die übernahmen diese letzteren - als unschöpferisch betrachteten - Schichten freilich gerne von den Geldverächtern. Immerhin war ja Geld nie mehr als ein Versuch, den Wert des Schöpferischen zu bannen, den man zuvor gestohlen hatte. Diesen blieb nur übrig zu imitieren, und sich so die Phänomene des Edlen (und andere gibt es nicht, andere sind nur mehr oder weniger mangelhafte Näherungsversuche ans Edle, Schöne, Gute, Wahre) so rasch als möglich anzueignen. 

Selbst das Geld, als Währung, als Zahlungsmittel im Handel nach heutigem Begriff ist ja ein Imitat der Unedlen. Sodaß aus einem Ausdrucksmittel des Edlen und Wertvollen im Sozialen ein Mittel zum schnöden Kauf und der banausischen Aneignung wurde, die zu sichern nur noch die Gewalt und das ausdrückliche Gesetz bleibt.

Mit allen Mitteln. Koste es was es wolle. Und sei es das Leben.

War aber die Achtung vor der Frau in Athen so ganz anders gelagert als im Orient, so kam es in Griechenland nie zur Versklavung der Frau. Wie im Orient. Weil dort (und nicht nur dort, sondern etwa in ganz Afrika) die Frau, noch mehr aber die Töchter und Verwandten als Pfand für Schulden, diese erste Frucht des Geldes, gegeben, in der Praxis damit als zu jeder Art von Dienstleistung verpflichtete Sklaven "verkauft" wurden. Denn dort war die soziale Verpflichtungs"schuld" den Schulden der Verschuldung gewichen. Die blieb in Athen dem Schuldner persönlich.

***

Was aber macht das Geld so "unedel"? Es holt die Existenz "in die Hand". Es macht sicher, was nie sicher sein darf! Jedes heldische Dasein ist immer ein Gang auf schmalem Grat, und es kann jederzeit in die Sklaverei führen. Das Risiko des Helden und Edlen ist groß, und analog zu seiner Höhe kann er auch binnen kürzester Zeit fallen. 

Der, der Geld hat, freilich "nicht". Er ist vielmehr bereits gefallen. Und er spielt kein Spiel, sondern er zementiert das Dasein in die Grundfesten der Kontrolliertheit und angstgetriebenen Gier. 

Damit reißt es aber den Menschen aus der Höhe des Geistes und zieht ihn in die Niederungen der Welt des Toten. Wo immer (und in dem Grad) eine Kultur vom Geld (und nicht von der Ehre) beherrscht wird, ist sie eine Kultur des Todes geworden.

Geld macht gleich und stellt damit Identität in den ständigen (sinnlosen, sisyphosartigen, nie zu befriedenden und ehrenlosen) Kampf. Es ist deshalb von Archilochos mit der porne, der gemeinen, willfährigen Frau vergleichbar. Aber es wurde bald weit mehr als alle gleichmachendes Ziel aller. Es wurde bald von allen tatsächlich gebraucht, weil sich immer weniger im Gemeinwesen über das Soziale, über die humane Verbindlichkeit regeln ließ. 

So sehr das auch manche erschrecken möge, für die der Kampf gegen die Verschleierung zum Pferd eines vorgeblichen Kulturkampfes gegen eine "Islamisierung" des Abendlandes wurde - nicht nur gehört der Schleier in die abendländische (und NICHT in die morgenländische!) Kulturtradition, sondern er ist humanes Merkmal des Edlen, Hohen, das sich im Vorsehungsstrom des Seins geborgen weiß. 
Das sich nicht in der Entblößung zufrieden gibt, der jede (!) Bekleidung zur unerträglichen und unzumutbaren Anstrengung der Begegnung mit einem Anderen wird. Das nicht ihr Leben auf die Ebene des Geldes verflacht, das alles gleich und formlos macht.

Seit je hat eine solche Verflachung alles und in rasendem Tempo verändert, auch im antiken Griechenland. Sogar der Arme hatte nun eine Chance, aus eigenem Antriebe zu Geld zu kommen - indem er sich den Begierlichkeiten der Geldbesitzenden auslieferte. Wie die Dirne. Wie anders doch in einer humanen Gesellschaft. 

Wo jeder sich dem Nächsten gegenüber verbunden fühlt, diesen an seinen Gütern und an Lebensweise nicht nur ein wenig, sondern maßlos teilhaben zu lassen. Während der Nehmende sich in allem Bangen weiß (dem die Dankbarkeit erwächst), von der Gnade dieses Nächsten abzuhängen. 

Stattdessen löst aber das Geld diese soziale, humane Bindung auf, weil es neutralisiert und abstrahiert. Genau das war ja die Absicht des sozialistischen Sozialstaats.

Natürlich haben wir, die wir ein wenig vom Menschen kennen, auch die Pflicht, das Faktische, die nackte Realität (in doppeltem Sinn) zur Kenntnis zu nehmen, und damit umzugehen. Sodaß auch unser Leben zu einem schwierigen Lavieren auf rohen Eiern wird. In der Suche nach der rechten Balance zwischen dem Leben selbst, und einer im Faktischen notwendigen Berührung mit der Ebene des Toten, des Geldes also. Mit welchem Phantom wir so vielfach verflochten sind.* 

Aber wir haben die Chance insofern zu überleben, als wir, wenn wir darum wissen, auch in unseren alltäglichen Urteilen zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was wir faktisch berücksichtigen müssen, zu scheiden vermögen. Weil wir vertrauen, daß dieses Unkraut, das uns so plagt, eines vollen Tages ausgerissen und auf den Misthaufen geworfen werden wird. 



*Sehen wir doch hin, wieviele Phantome sind es längst, die uns umgeben und mit denen wir umgehen müssen, obwohl wir sie in ihrer Spukhaftigkeit erkannt haben. Vergessen wir dabei nur nicht, daß uns der Regen wohl naß machen, aber unsere Seele im Letzten nicht ertränken kann.


*161120*