Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 5. November 2020

Wider Enzykliken (2)

Teil 2) Der Kampf um Bedeutung und Autorität
- Was sich durch das Erste und Zweite Vatikanische Konzil geändert hat


Das Problem begann in Wahrheit schon 1519 mit Luther, mit den gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Verwüstungen, die der Protestantismus anrichtete. Was wir weiter unten genauer ausführen wollen, hat da bereits angefangen, und zwar auch und vor allem in den Festlegungen in der Liturgie, der langfristig die Luft abgeschnürt wurde. Spätestens hier begann eine Entwicklung, die wir mit "Identität als Apologetik und Angstbehauptung" betiteln wollen und nach dem Zweiten Vatikanum einen vielleicht nicht mehr zu überbietenden Höhepunkt erreicht hat.

Wobei im noch größeren Rahmen gesehen auch diese Festsetzung des Anfanges unzulänglich ist. Denn um präziser zu sein müssen wir schon im langen 13. Jahrhundert ansetzen. In jenem Zeitraum, wo dieses fast traumähnliche Ganze, das Europa als die Kultur des Abendlandes gewesen ist (und das jede Kultur im Grunde ist, ist sie noch eine Kultur und nicht ein verwesender Leichnam), zu zerfallen begann. Wir sehen es also noch schärfer als das Greenhorn in seinen Ausführungen, die wir hier so schamlos als Sprungbrett zu unserer eigenen und umfassenderen Deutung benützen.¹ 

Aber offensichtlich schlagend wurde es 1789, bei und nach der Französischen Revolution. Und der von ihr verwirklichten Schwächung der gesellschaftlichen Position der Kirche, namentlich ihrem Autoritätsverlust durch die aufoktroyierte Aufklärung. Das hat zu einer veränderten Haltung der Päpste als oberste Autorität geführt. Sie sahen sich mehr und mehr (und warum auch immer) genötigt, dem Wust an aufkommenden Ideen und Ideologien etwas entgegenzusetzen, das zuvor gar nicht notwendig war. Zumindest nicht von Päpsten direkt. 

Denn zuvor waren es die Priester und Katecheten, die Mönche und Heiligen, vor allem aber durch die Liturgie und den Jahreskreis, der die Gesellschaft (als und zur Kultur) geformt hatte und völlig selbstverständlich gewesen war. Diese Selbstverständlichkeit war nun ins Wanken geraten, und das sahen auch die Päpste als oberste Autorität. Und sie taten eines, sie griffen zur einzigen Waffe, die ihnen angesichts des realen Bedeutungsverlustes noch blieb: Sie griffen zum Stift. 

Das heißt nichts weniger als daß, was nun in der Kirche einsetzte, bereits aus einer Position der Schwäche heraus entstand. Die Kirche erfuhr sich unterlegen, und integrierte nun das Überlegene - den Staat (und das heißt letztlich, von anderer Seite aus gesehen, den Zeitgeist) und dessen Begierden.

Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Revolutionen, des Zerfalls gesellschaftlicher Strukturen und politischer Organisation von Völkern. Der Staat stand im Vordergrund des Denkens, und damit auch die Autorität und Stellung der Kirche. Die erstmals etwas begann, was es in dieser Form zuvor noch nicht gegeben hatte. Sie begann, ideale Strukturen und Bilder zu entwerfen. Vom Staat, von der Kultur, von ihrer eigenen Struktur. Und mit einem Mal stand die Position des Papstes zur Diskussion. Innerhalb der Kirche! 

Diese Frage wurde bekanntlich sogar Anlaß einer nächsten Kirchenspaltung, die der (so genannten) Alt-Katholiken. Aber der wahre Anlaß war, daß eine positive Definition³ (sofern sie nicht Poesie ist, die man aber Spekulative Theologie nennt) für eine wissenschaftliche philosophisch-theologische Auseinandersetzung damit untauglich weil zwangsläufig mangelhaft bleibt. Und so mancher katholische Eckpfeiler, darunter der zum Kirchenlehrer erklärte Kardinal Henry Newman, sah das Problem (speziell bei der Dogmatisierung der Päpstlichen Unfehlbarkeit) nicht weniger wie der bayrische, dermalen hoch angesehene, aber heute katastrophal miß- und unverstandene (wofür der Wikipedia-Eintrag einmal mehr ein Beispiel ist) bayrische Theologe Ignaz von Döllinger. Der dafür exkommuniziert wurde. 

"Das Papsttum," schreibt dazu unser Greenhorn, "beschränkte sich im Allgemeinen auf die Rolle, Streitigkeiten beizulegen und damit die Grenzen der Orthodoxie festzulegen. Die Moraltheologie wurde mehr oder weniger den Moraltheologen überlassen. Und die positive Theologie den Poeten, Mystikern und Spekulativen, fügen wir hinzu.  
Der stetige Strom von positiven Erklärungen nach 1789 war vielleicht eine notwendige Gegenmaßnahme gegen das Revolutionäre, aber er war zumindest außergewöhnlich. 
Die Weisheit und moralische Integrität der Männer, die in diesen Jahren das Papsttum innehatten, verlieh ihnen viel Autorität. Es ist jedoch wenig vorstellbar, daß irgendjemand eine solche moralische Führung der Päpste während der 'Pornokratie' des 9. Jahrhunderts ernst genommen hätte.  
Dennoch waren die besten Enzykliken alles andere als akademisch. Sie waren vielmehr Versuche, die unsterbliche Lehre der Kirche auf konkrete moderne Situationen anzuwenden. [Enzykliken waren] kein Selbstzweck, sondern unterstützten ein größeres Betriebsprogramm. [Sie waren] niemals Wiederkäuer um ihrer selbst willen."

Waren zuvor kirchliche - also päpstliche - Lehrentscheidungen kaum jemals mehr als Abgrenzungen gewesen, konsultierte man Lehrkompendien lediglich in Fragen, was NICHT katholisch ist, setzte eine neue Bewegung ein, die sich darauf zu konzentrieren begann positiv zu formulieren, WAS KATHOLISCH SEI. So etablierte sich Schritt für Schritt eine Form der päpstlich-lehramtlichen Äußerung, die als "Enzykliken" betitelt das aufzuarbeiten begann, was denn die Kirche immer schon geglaubt hatte.² 

Damit aber passiert etwas scheinbar Seltsames, es beginnt zwangsläufig, das Denken vorzugeben und es damit EINZUSCHRÄNKEN. Ja damit wurde die Vernunft des Menschen, diese unverzichtbare Basis der katholischen Theologie und Anthropologie! beschränkt weil als Säule der Freiheit festgelegt.*** 

War das Katholische zuvor das Unbegrenzbare, das in seiner Weite und Größe niemals erfaßbare, das mehr durch Grenzen als durch positive Beschreibung zu erfassen war, begann nun eine neue Art des Umgangs damit um sich zu greifen. 
War bislang grosso modo alles das katholisch gewesen, was nicht explizit NICHT katholisch war, war immer mehr nur noch das katholisch, was DEFINIERT war. Der Leser möge das in Ruhe bedenken, und so nachvollziehen, wo der gravierende, wirklich gravierende Bruch in der Haltung des Getauften zu Glaube, Sakrament und Liturgie besteht.

Aber die Lage hat sich mehr und mehr geändert, ein Stein wurde auf den anderen gesetzt. Schon keineswegs zufällig wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Neothomismus ausgerufen. Er war nicht weniger als Restaurationsversuch, ein Selbstbefestigungsversuch, die Rückbesinnung auf Thomas von Aquin. Der immerhin auch so gesehen werden kann, daß er am weitesten aller Denker und Beter im katholischen Kulturraum dabei kam, eine geschlossene, positive Theorie aufzustellen.² 

Die in seinen zweifellos großen und großartigen Hinterlassenschaften wie der "Summa Theologiae" und der bewußt als Abwehrkompendium gegen die Irrtümer des Islam (die ja in ihren Prinzipien keineswegs Einzelfälle sind, sondern als Archetypen für den gesamten menschlichen Geistesraum gelten können) verfaßten "Summa contra Gentiles" als Bastion bereits genug war und es noch immer sein sollte, den leidenschaftlichen Anstürmen der Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts zu widerstehen.

Das hat sich mit und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegend geändert. Schon die Texte dieses Konzils kann man als Versuche begreifen, die Gesamtheit des Katholischen zu definieren, OHNE noch auf die Grenzen einzugehen. Ja, die Grenzen verschwanden sogar nahezu, und wurden nur noch für den existent und erkennbar, der ausreichend theologische und philosophische Bildung und Herzensreife hatte, sie mit den Texten des Konzils still mitzudenken.

Entsprechend verschwommen und "flexibel" sind viele, oft sogar die entscheidenden Formulierungen. Und das ist auch kaum anders möglich. Denn will man das Katholische positiv formulieren, ihm als "Lehre" eine Kontur geben, die in der intellektuellen Welt bestehen kann, muß man nicht nur scheitern, sondern der Versuch, es dennoch zu tun liefert, was wir tatsächlich geliefert bekommen haben: 

Texte, die dermaßen ambivalent sind, weil so viel zu berücksichtigen ist, weil so viel offen zu bleiben hat. Weil jede positive Formulierung² im intellektuellen Disput bestehen können muß. Sodaß am Ende dieses langsamen Scheiterns aber die Auflösung, die positive weil unbestimmte (weil in den Augen mancher ohnehin unbestimmbare) Vieldeutigkeit, und damit letztlich der Verzicht auf das eigentlich Mitzuteilende steht.

Das aber der sensus fidei, der existentielle Glaubenssinn, keineswegs als offen erfaßt. Es ist nur kaum oder gar nicht zu formulieren. Hinter jedem Glaubenstext steht also etwas, das mehr ist als Text, das ein reales, vollwirkliches und geschichtswirksames wie - schaffendes Glaube(n) ist! 

 
Morgen Teil 3) Ein Paradigmenwechsel mit schweren Folgen

¹Über diese Explosion des Abendlandes, die im "langen 13. Jhd." (der Begriff wurde von Jacques Le Goff gebildet und meint den Zeitraum vom späten 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert) ablief, werden wir einen eigenen Beitrag in den nächsten Tagen veröffentlichen. Der vor allem darauf eingeht, daß es sich um eine "architektonische" Wende, um eine Architekturexplosion, also um eine Erschütterung des Raumes und damit des Ortes aller Dinge gehandelt hat.

²Der Leser kann es auch an manchen Texten in diesem Blog erkennen, die oft nicht zufällig so weit zu schweifen scheinen. Sie tun es, weil es sehr sehr schwierig ist, das, was man erfährt, das was vor einem steht, real, in Worten zu fassen zu kriegen - und "positiv" zu beschreiben. Also von innen heraus, nicht von seinen Grenzen her. Eine Aufgabe, die normalerweise der Poesie zugeschrieben wird, ja die zum Wesen der Kunst behört. Deshalb waren fast immer die Mystiker - sie sind die, die das Ganze sehen, dem Ganzen begegnen - zugleich wahre Poeten, man denke etwa an Johannes vom Kreuz.

***Vernunft ist dabei in einem viel umfänglicheren weil holistischen Sinn gemeint, als es die Aufklärung tut. Die die Vernunft auf die Ratio beschränkt - und damit unvernünftig wird. Dasselbe ist nun auch in der Kirche passiert.

³Wir müssen uns bewußt sein, daß einer der fundamentalsten Gründe, warum sich die Orthodoxie nicht in die Kirche eingliedern will und wird, genau das ist: Die Orthodoxie lehnt die positiven Definitionen (nach dem Konzil von Nicäa, das im Glaubensbekenntnis gewissermaßen die einzige positive Definition festlegte) ab, in die sich die Kirche mehr und mehr begeben hat. Dabei werden gar nicht so sehr die Glaubensinhalte abgelehnt, auf den sich die katholischen (päpstlichen) Definitionen im Grunde beziehen, sondern diese Definition. Die den Inhalt nur ungenügend erfassen, und damit irreführend sind oder sein (können)! 

Zugleich wird aber auch das Elend deutlich, das damit einhergeht. Denn OHNE solche Definitionen entstehen neue Gefahren, und die sieht man in der Orthodoxie tatsächlich. Es entsteht die Gefahr einer Inclusion von Inhalten, die ursprünglich auszuschließen wären. Es entsteht bei einem Bruch der persönlichen Überlieferung (sic!), die in der Orthodoxen Theologie eine weit größere Rolle spielt als in der römischen Kirche, die Gefahr einer Zulassung von Inhalten, die ursprünglich ausgeschlossen waren. Selbst bei einer so großen Rolle, die die Kirchenväter in der Orthodoxie spielen. Und damit entsteht die Gefahr einer der Häresie einhergehenden Selbstausschließung aus der Kirche, weil es keine Korrekturinstanz gibt. 


*141020*