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Montag, 30. November 2020

Eine unbekannte Motivlage

Praktisch jeder Konsument stimmt den Theorien der hochwohlgeborenen Weisen der Wirtschaftstheorien und Käuferpsychologien, die in Werbeagenturen, Psychologie-Trusts und Ökonomistenstuben, von Showmoderatoren und Kaffeetischphilosophen gedroschen werden, was der Tag lang ist, hellauf zu, schreibt Mary Douglas in "The World of Goods." Die ihn sämtlich als giergesteuertes Arschloch darstellen, der seine Kaufentscheidungen so gut wie immer falsch und unmoralisch trifft. 

Warum lassen sich aber diese Menschen, die mit meist sehr abfälligem Ton "Konsumenten" genannt werden, so gerne beschimpfen? Warum lassen sie sich so gerne in diese hanebüchenen Theorien hineinziehen, in denen die Kaufentscheidung selbst schon deshalb und eigentlich ausnahmslos sündebeladen ist, weil mit dem Kauf immer mehr Weltkatastrophen beschworen werden? Speziell heute ist es doch so, daß kaum noch ein Produkt kaufbar ist, ohne daß damit die Zukunft der gesamten Erde und menschlichen Welt mit entschieden wird. Und wenn nicht heute, so morgen oder in fünfzig Jahren. Immer mehr Produkte setzen auf diese bewußte Entscheidung in moralischen Kategorien, die die Menschheit in Böse und Gute teilen.

Mary Douglas' Antworten darauf knüpfen freilich an eine ganz andere Sichtweise des Menschen an. Die herkömmlichen Erklärungen speziell der Ökonomen, die die Kaufentscheidung auf angebliche sachliche Kategorien wie "Bedarf", "Eitelkeit", "Gier", Preisabwägung und die Vorhandenheit von Gütern (Stichwort "Knappheit") lassen zu viel unerklärt. Ja, sie erklären im Grunde gar nichts. Sodaß es auch kein Zufall ist, daß die Realitäten den Prognosen der Ökonomen regelmäßig davonlaufen.

Sämtliches Denken in der Ökonomie kreist um die Frage nach Angebot und Nachfrage, und was Nachfrage ist und bewirkt. Aber von nichts hat die Ökonomie weniger Ahnung. 

Die Wahrheit ist doch, daß in Erfolg wie Mißerfolg niemand die Gründe weiß, jede Erklärung ist nur eine posthoc-Rationalisierung. Und trifft einmal eine Prognose zu, dann ist es Zufall, hat einmal eine Beratung Erfolg, dann ist es nicht, weil die Theorien es zwingend vorhergesagt oder gar durch Maßnahmen erreicht haben - Ökonomie ist eben alles, nur keine Wissenschaft - sondern weil irgendwelche Gründe vorlagen, die zufällig zu den Theorien gepaßt haben.

Die eigene Erfahrung ebenso wie Befragungen von Käufern erzählen tatsächlich von ganz anderen Faktoren, die Nachfrage und Bedarf nach bestimmten Produkten ausgemacht haben. Die die Gründe dafür waren, daß der "Konsument" dieses oder jenes Produkt gekauft hat.* Aber es sind sämtlich Gründe, die in ganz anderen Bereichen liegen, als der Bürger in seinem Gedankenreservoir vorfindet. Sie liegen auf ontologischer Ebene, sind also unsichtbar und auf keinen Fall direkt "erfahrbar", sondern abstrakt. Und doch im Konkreten vorhanden.

Es sind, so Douglas, Kräfte, sogar so starke Kräfte, daß jedes Fragen nach moralischen Gründen nicht weniger als impertinent ist. Es sind Kräfte, die aber im bewußten Gedanken- und Entscheidungsportefeuille des Menschen begrifflich nicht vorkommen. Das soll heißen: So gut wie alle Kaufentscheidungen trifft der "Konsument" ohne überhaupt eine Kaufentscheidung an sich zu treffen. 

Sondern er entscheidet sich für eine ganz andere Komplettheit. In die dieses Ding, dieses Produkt da, dessen Wert und welche Schuldigkeit er über Geld ausgleicht (ohne daß Geld tatsächlich Schuld - das ist ein ganz wichtiger Punkt! - begleichen könnte; kein Mensch glaubt daran, sondern es handelt sich nur um ein Gesolltes, eine Konvention, die akzeptiert wird), nun eben hineingehört und damit hineinpaßt. 

Denn alle Dinge, die der Mensch um sich hat und als "Eigen-tum" (in welchem Begriff schon dessen Wesen, die "Eigen-tümlichkeit" vorbereitet ist) hat, sind Teil einer gesamtheitlichen Kommunikation mit der Welt und jenen Gesamtheiten (und das heißt sozialen Gebilden, Formen, Gesellschaftsformen, Beziehungsgestalten).

Aber das paßt nicht in eine Zeit der Aufklärung, die unter Bezug auf Descartes damit auf den Putz klopfte, daß der Mensch ein bewußtes, vertraglich-sprachliches Wesen sei, und nicht mehr. Seit mehr als zweihundert und mehr Jahren ist es somit Teil eines Gutmenschen-Ideals, eines Gesollten Menschseins, daß alle Entscheidungen bewußt und nach vordergründig rationalen Konstellationen getroffen werden. 

Da will doch keiner zurückstehen! Und wenn es denn doch so sein sollte, daß diese Entscheidung zu offensichtlich mit dem rationalen, eigenen "Denken" nicht übereinstimmt, so müssen es also Zwangsgründe, fremde und frech, böse einbrechende Mächte sein (man sehe sich doch Michel Foucault an, der sich zeitlebens nur mit dieser Erklärung herumgeschlagen hat) die eine Lebenssituation gebracht haben, die man nun nicht so gerne hat. Weil man gerne anders wäre. Warum auch immer.

Warum auch immer. 

Sodaß der Mensch, der gute, sich sogar lieber noch als Opfer perfider Werbung oder verführender Triggersignale der Marketingspezialisten deklariert als zuzugeben, daß er von ihm bewußt gar nicht zugängigen - einfach nur zu übernehmenden, zur Kenntnis zu nehmenden! - Kräften und Bewegungen des Beziehungsknotens, der er ist, erkennen zu müssen. Denn das widerspricht seinem Stolz, zu dem er seit der Aufklärung ja regelrecht verpflichtet ist. 

Denn geht es nicht überall und immer nur noch darum, durch stolz behauptete "Kritikfähigkeit", durch (angebliche) "eigene Meinungen" (die natürlich alle Dimensionen des Meinenden umfassen, das ist ja klar) seine "Mündigkeit" zu beweisen. Und das heißt seine Autonomie, seine (angebliche) Freiheit. 
Das ist doch die Majestätsbeleidigung der Gegenwart, die Beleidigung des Einzelnen, dieses Individuums, weil er nicht totaler Herrscher seiner (oder gar "der") Welt und Gegenwart ist. Gesteuert von diesem kleinen Hirnareal, das, wie es heißt, Sitz der Psycho-Konstellation ist, die man "Ich" nennt.

Wehe allen, die das in Frage stellen. Wehe jenen, die das Einstimmen des Menschen in eine ontologische Vorgegebenheit (man kann sie zu einem guten Teil sogar "Tradition" nennen, aber wie gesagt, nur zum Teil) auch noch als Ideal und Moment der Freiheit definieren. Wehe jenen, die der eigenen Willkür eine Absage erteilen. Wehe! 
Lieber haben wir erfrorene Hände, die dem Vater sagen, daß er den falschen Mantel gekauft hat, als daß wir sie am Feuer wärmen. Und lieber werten wir (angeleitet von den weisen Ökonomen und Plüschologen) unsere Bedürfnisse zu "luxuriös und unnötig", zu "eingeredet und falsch", und sogar als "unmoralisch" ab. 
Und anerkennen jede, wirklich bald jede Form der zugewiesenen Buße als auferlegte Steuer für unser ... Selbstsein.

Denn was wir kaufen und begehren, es ist doch eine einzige Geschichte der Todsünde Neid, des Kampfes alle gegen alle um die bessere Position, um im Evolutionsstrome weiter nach vorne zu gelangen. 

Wir müssen deshalb Herr unserer selbst bleiben, das darf niemals in Frage gestellt sein. Und sei es, daß wir uns in immer tieferen moralischen Versagensvorwürfen ein- und damit abfinden. Lieber lassen wir uns als unmoralische Konsumenten, die aus herzerfrischend doofen Gründen zu Weihnachten (angeblich) dem "Kaufrausch" verfallen, beschimpfen, als an die Wurzel des Zahnes zu fassen, der da zum Gotterbarmen zieht, welchen Schmerz wir aber tapfer wegdrücken. 

Weil falsche Vorwürfe gar nicht wehtun, weil wir damit den Schmerz (und damit eine angebliche Zutreffendheit) wunderbar vorspielen können. 

Man könnte es sogar so ausdrücken: Um moralisch zu sein - und das heißt mehr, als dem Leser klar sein mag, als moralisch zu gelten - verschenken wir lieber die Welt, überlassen sie anderen.

Das, werter Leser, das ist somit der wahre Grund, warum die Menschen diese Kräfte, von denen oben gesprochen wurde und die nur verstehbar, begreifbar sind, wenn man die Welt des Geistigen, des Wirklichen sohin, als objektive Welt von geistigen Kräften begreift, innerhalb deren Vektoren auch das Menschsein seinen Platz hat, so ungern zugeben oder zugeben würden. 

Selbst dann, würden sie davon wissen. Sie spüren, daß es so ist, aber sie wollen nicht Teil eines Größeren sein, das sie so bestimmt, daß von direkter (sic! es geht ums Direkte! im Einzelfall also um bewußtes Handeln innerhalb eines begrenzten Weltfalls, Kauf und Kaufentscheidung hier und jetzt und für dieses Produkt) Entscheidung gar nicht die Rede sein kann.**

Was wir kaufen ist die Antwort aus einem Seins- und Darstellungswillen, um von uns mitteilen zu können. 

Denn der Mensch ist von viel größeren Konstellationen geprägt und bestimmt. Denen er ebenso zustimmt, das ist zweifellos so, und die im Rang aber weit über solchen schnöden Einzelentscheidungen liegen wie den Kauf eines Brotlaibes, eines Autos oder eines Liegestuhles. Alle diese Dinge wurden auf ihre spezielle Weise eine Notwendigkeit. Sie sollen nämlich eine ontologische Leere, also eine Leere im Sein des Menschen füllen, die wie jedes Vakuum förmlich nach Besetzung schreien und einladen. Nichts bleibt ohne Beherrschung.

So wird - und wir wollen diese Sätze als erstes Nippen an einem übervollen Glase verstanden wissen - der "Kaufrausch der (westlichen) Konsumenten" in unserer Zeit in einem ganz anderen Zusammenhang begreifbar. Und zwar nicht als moralische Schuld der ohnehin schon so gepiesackten Bürger und Menschlein, sondern als völlig richtiges Reagieren und Agieren angesichts einer Daseinsleere, die aus der Verfaßtheit der Kulturgemeinschaft, also der Gesellschaften, des Staates, der Ordnungen unserer menschlichen Verbindungen und Standorte, zu einem ganz anderen Ding. 

Das NICHT mit den Kategorien und Dimensionen der Aufklärung verstehbar ist. Die greifen da um so viel zu kurz, daß man sie getrost als irrelevant entsorgen kann. Sondern die nach ganz anderen Ursachen und ganz anderen Ursachenkämpfen verlangen, als unsere Dispute ihnen zugestehen wollen. 

Ursachen und Wirkkomplexe, die freilich auch nach völlig anderen Reaktionen verlangen. Darum geht es. Und damit werden wir uns hier noch so manches Mal weiter befassen, um die Sache zu vertiefen. 

Einstweilen aber soll der Leser schon mit einer kleinen Portion naschen dürfen. Die vielleicht ausreicht, um von der zu dieser Jahreszeit, im Advent, wo in Vorbereitung des Weihnachtsfestes - dieses großen Festes des Gebens, des Schenkens ebenso wie des Empfangens, des Nehmens, und damit ... des wechselseitigen Verschuldens als dem eigentlichen Tragegrund des Sozialen - so gerne von allen Seiten übergestülpten Schulddecke angeblichen moralischen Fehlverhaltens wenigstens anfanghaft befreit zu werden. 


*Eine ökonomische Theorie muß von Prämissen und Rationalitäten ausgehen, die aber sämtlich hinterfragbar sind. Sie setzt aber etwa voraus, daß es eine Reaktion des Konsumenten auf Preis und Preisveränderungen gibt, daß sein Geschmack, seine Vorlieben fest angenommen werden dürfen, daß seine Wahl konsistent ist und das auch über Zeiträume bzw. -intervalle bleibt, daß er bei Nachlässen mit Bereitschaft zum Mehrkauf reagiert (und umgekehrt), und daß er auf Einkommensverluste mit Veränderungen seiner Kaufentscheidungen reagiert. 

**Konsum wird in den Augen der Ökonomie überhaupt und generell als Mittel zu einem definierten Zweck (definierbare Bedürfnisbefriedigung, in der der Mensch seine Arbeitskraft aufrechthält, im Letzten also "lebt um zu arbeiten") gesehen. Aber die Frage ist viel spannender und vermutlich entscheidender, daß die Erhaltung, durch das gekaufte Produkt, also dieser angegebene Zweck, nur immanenter, also fast zufälliger Effekt ist. Auf die Spitze gebracht: 

Man kauft nicht Brot, um satt zu sein. Man wird vielmehr beim Essen des Brotes AUCH satt. 

Versteht der Leser nun, worauf es hinaus soll (und was der Kern des Bibelwortes "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" ist? Es ist vielmehr eine Verkürzung des Denkens seit der Aufklärung geschehen, die das Kaufen des Brotes als Akt der Erwerbung eines Mittels sieht, mit dem der Blutkreislauf etc. aufrechterhalten werden soll. 

Wenn das aber nun so ist - was sind dann die Gründe, daß jemand (sagen wir) Brot oder einen Swimmingpool oder eine Ledertasche kauft? Diese Fragen sind keineswegs nebensächlich, sondern sie sind das Herz jeder Wirtschaftstheorie.


*281120*