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Freitag, 9. April 2021

Beim Lesen von Gerhart Hauptmann

Kein Millimeter, der nicht voll der Welt und Wirklichkeit wäre, keine Betrachtung, in der sich nicht die ganze Welt öffnete, keine Wendung, die nicht im Spiel des Wirklichen die Freude der Wahrheit atmet, die sich im Text auftut, als stünden alle Fenster offen. Ach, könnte man es doch auch ...

Wie dumm dagegen jene erscheinen, die meinen, es gäbe einen methodischen Weg, "gut schreiben" zu lernen. Das Handwerkzeug der Beherrschung der Sprache steht jedem zur Aneignung offen. Und mir graut sogar gerade vor jenen, die so "gut schreiben", die so geschickt mit Worten und Wendungen umzugehen wissen. Die aber nicht einen Augenblick lang die Sprache hinter der Sprache mit sich führen, um die es aber ausschließlich geht. Selbst das Ungelenke, gar nicht so Geschmeidige vermag da noch mehr an Bedeutung zu haben, also alle diese Texte. Die einen heute in Massen umgeben. 

Die Arbeit des Schriftstellers ist aber nicht die "am Text". Dort wird sie zu einer solchen nur - da muß sie aber auch stattfinden - als es beim Schleifen des Textes darum geht, ihn "gehorsamer" zu machen. Ihn dem wirklich Wirklichen, das er mit sich führen und ans Licht bringen soll, anzuschmiegen wie der Hand den Handschuh, dem Bein den Nylonstrumpf, dem Fisch das Wasser. 

Nur insofern hat das Material (die buchstäbliche, werkzeugliche Sprache) seine Bedeutung, weil jeder Bildhauer weiß, daß die Gestalt einer Figur durch Weglassen, nicht durch Hinzufügen entsteht. Und daß sie im Material enthalten ist, sodaß das Schöpferische zur aufmerksamen Suche wird, wo die Wesenslinien des Materials liegen.

Die Arbeit des Schriftstellers ist die an seiner Haltung. An seiner Moral. An seiner Sittlichkeit. An seinem Selbstbesitz. Damit alles, was er in der Sprache an Material in Händen hat, dem von der innersten Seele ausgehenden Strahl des Wirklichen ins Wahre zu leiten vermag. 

Wieviel Geschmeidiges, Geschicktes, "gut formuliertes", das von vorne bis hinten eine Lüge ist. Das ein einziges Täuschungsmanöver sein soll, um die Abgründe der eigenen Seele zu verbergen. Und eine Figur in die Welt stellen soll, die nur in jenen Scheinwerfern zu glänzen beginnt, an deren Positionierung und Funktion das einzige ist, woran der Schreibende wirklich gearbeitet hat.


*260321*