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Freitag, 2. April 2021

Gedankensplitter (1073)

Liberal heißt, nicht vom Sein auszugehen, sondern von der Funktion. Nicht von der Gestalt, und die Welt als Gestaltgefüge zu sehen, sondern als technische Maschine, die entsprechend funktioniert und beherrschbar ist. Man sieht dann die Welt völlig anders, sie zerfällt einem regelrecht. Denn ganz und heil bleibt sie nur, wenn man - wie im Traum - in einem Gestaltgefüge lebt, und bei allem, was man tut, diesen Ort (also: diese Gestalt) zu sehen, und nur sie. Daß es nur darum geht, daß alles seinen Ort hat, seine Ordnung, und daß somit von dort her alles ausgeht, was zu tun ist: Vom Sein, das das Handeln bestimmt.

Er hat engstens mit der Aufklärung zu tun. Und ist auch in dieselbe Zeit zu verankern, das heißt, daß er uns seit zweihundert, zweihundertfünfzig Jahren programmatisch zu durchsäuern begonnen hat. Ausgegangen ist er vom 13. Jahrhundert, ich bin sicher, dort wurden die Weichen erstmals durch die Politik, durch gezielte Veränderungen der Kulturinstitutionen, so gestellt.

Die Welt ist dadurch zerfallen, weil die Dinge zerfallen sind. Weil das Gesamte weggenommen wurde, verdunstet ist. Ein Teufelskreis. Je mehr das Außen, das Gesamt verdunstet, desto mehr richtet man sich aufs Einzelne, um es noch zu befestigen.

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Als die entscheidende Folge ist seit dem 19. Jahrhundert eine Veränderung der Haltung der Menschen in dieser Kultur erfolgt. Sie haben von einer Haltung des Erwartens, des permanenten Bitt- und Flehensgebetes, aus einem Erfahren der eigenen Unfähigkeit, sich selbst in den Himmel zu tragen, zu einer Haltung des Beherrschens gewechselt. Das wurde zur Grundstimmung in dieser Kultur, und das war ihr Todesgift.

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Dasein ohne Schuld, ohne Verschuldung, ist ein Dasein ohne Verbindlichkeit. Dies ist zur Form der Freiheit geworden, um die es der Aufklärung "geht". Eine Freiheit, die nie aktualisiert wird, weil sie sich nie realisiert. Denn das tut sie erst in der Verbindlichkeit, die ich auch verneinen kann. Die in dem Sinn kein Zwang ist, aber eine Notwendigkeit, der ich folgen kann.

So wird begreifbarer, wenn man denn sagt, daß es ohne Verbindlichkeit überhaupt keine soziale Einheit gibt. Ja, ohne Verbindlichkeit wird das soziale Bedürfen des Menschen - das als Bedürfen auf die Verbindlichkeit hinweist! - frustriert. Es gibt keine Gesellschaft als Gemeinschaft ohne Verbindlichkeit, also ohne Schuld. Und insofern haben die Geldtheorien recht, die darauf hinweisen, daß es nicht Gold oder Vermögen ist, das Geld schuf, sondern soziale Verbindlichkeit, also Schuld.

Geld kann nur dort bestehen, wo es wechselseitige Verbindlichkeit gibt. Und das ist der Kern jedes Gesellschaftlichen: Es ist die Bereitschaft aller Teilnehmer, sich jederzeit und gegenüber allen zu verschulden. Weil man selber darauf vertraut, daß der andere ebenso eine Verbindlichkeit eingeht, indem er mir eine Leistung erbringt, um die ich ihn bitte, und deren ich bedarf.

Das ist der einzige Boden, auf dem Geld als Ausdruck dieser wechselseitigen Verbindlichkeit und des wechselseitigen Vertrauens - das ich mit dem Übergeben eines Geldstückes an den anderen besiegele - Sinn hat. Wo dieses Vertrauen, daß der andere zuläßt, daß ich ihm verbindlich bin (weil er mir etwas leistet), das ich mit einer höchsteigenen Leistung erfülle, besteht. Fehlt es, entstehen alle die Erscheinungen in Zusammenhang mit Geld, die wir kennen. Inflation oder Deflation (als Mangel an Verbindlichkeitsbereitschaft) sind somit Erscheinungen der Schwäche sozialer Netze, die zugleich der Geltungsraum von Währung (Geld) sind.

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Das war eine der wichtigsten Erfahrungen in meiner Zeit der Bekanntschaft mit der (russischen) Orthodoxie: Ich habe dort diese Haltung des Empfangens, des Erwartens noch deutlich erkannt, die jene hatten, die an den Gottesdiensten teilnahmen. Etwas, das der römischen Liturgie mittlerweile fast völlig fehlt. 

Die auch in der sogenannten "Alten Liturgie" übrigens nicht da ist. Die einem vielmehr wie eine der vielen Vorstufen zur Liturgie (mit dem Trienter Konzil beschleunigt, behaupte ich) erscheint, wie wir sie heute vor Augen haben. Und die die in ihrer (umfassend gemeinten) Architektur die Gesamthaltung der Menschen dermaßen deformiert, daß diese heilsunfähig und damit taub und blind gemacht werden. 

Werden können, muß man hinzufügen, weil es stark von den individuellen Bedingungen, vor allem auch von der konkreten Architektur der Kirche abhängt, die man besucht. Ich habe bei meinen (dienstlich bedingt) häufigen seinerzeitigen Besuchen in Pfarren einer österreichischen Diözese festgestellt, daß die Art der Kirche auf die Art des Glaubens der Menschen dort Rückschlüsse zuließ. Nicht immer klar in Worte zu fassen, aber immer zumindest atmosphärisch.

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*240321*