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Freitag, 28. Januar 2011

Auf den Punkt gebracht

Es kann natürlich gar nicht anders sein: als Stufe der Evolution verstanden, bleibt Rudolf Hernegger bzw. der Psychologie gar keine andere Wahl mehr als einerseits staundend vor den Fakten zu stehen, daß es Religiosität und Mythen und Kult GIBT. Anderseits findet sich weltimmanent keine Entsprechung, sprich: naturwissenschaftlich betrachtet findet sich kein Gott. Also gibt es nur eine Lösung, deren "Warum" natürlich gar nicht beantwortbar ist, deshalb weit umschifft (und nur durch Einschaltung einer Zwischenstufe scheingelöst) wird. Aber Hernegger reißt die Kulturanthropologie, wie er meint, wieder neu auf, stellt die Frage nach dem Ursprung wieder neu, die - so schreibt er - jahrzehntelang ausgeklammert wurde, weil sie als "spekulativ" abqualifiziert worden war. Aber die Suche nach Hypothesen, um sie wissenschaftlich zu prüfen, ist nicht einfach Spekulation, sondern wesentlich für den Fortschritt einer Wissenschaft. Die, wenn sie sich nur noch auf Datensammlung beschränkt, sinnlos wird.

Religiosität und Religion, die nie ohne Kult und Mythos (Offenbarung) auftritt, ist - so faßt es Hernegger in "Der Mensch auf der Suche nach Identität - Kulturanthropologische Studien über Totemismus, Mythos und Religion" in seiner These zusammen - eine kulturelle Ausformung des Umstandes, daß der Mensch im Übergang vom Tier seines instinkthaften Platzes in der Welt verlustig ging. Plötzlich wurde ihm Identität nicht mehr vorgegeben, sondern er mußte sie schaffen. Orientierung wurde ihm Auftrag. Weil diese Selbst-Schöpfung aber sehr labil ist, kam es zur kulturellen Ausbildung von Religion bzw. einer religiös durchtränkten Gesellschaft. Diese Welt ist prinzipiell also "illusionär". Aber das macht nichts, solange alle diese Illusion "mitspielen". (Das Hauptwerk des Idealisten Vaihinger um die Wende vom 19. zum 20. Jhd. lautet ja deshalb "Die Philosophie des Als-ob", und er zieht da eine metaphysiklose Linie von Descartes und Kant her fort.)

Seit der Aufklärung, so Hernegger, ist diese Gewißheit, in der sich der Mensch ausruhen konnte, aufgebrochen und verloren gegangen. Und wir ringen seither um eine neue Identität. Wo wir neu den Sinn der Imagos - und neue Imaginationen überhaupt - finden müssen, die uns bis dorthin die Religion lieferte.

Es ist wohltuend, und spricht für Hernegger (dessen sittliches Ringen um Objektivität, in der er den Fakten, nicht seinen Thesen, Raum geben will, um seine Thesen zu läutern, in jeder Zeile spürbar wird), wie präzise er diese Fragestellung rekapituliert, und man findet wohl kaum wo so exakt, was sich in Feuerbach ein Jahrhundert zuvor schon so erschreckend präzisierte. Es ist die Einschätzung der Religion als rein menschliches Bedürfnis, als Illusion, wo der reifere Mensch sich in der Ernüchtertheit (man hört hier förmlich das Klirren des Existentialismus des 20. Jhds.!) der "Realität" wiederfindet: allein, ohne Gott, den er nur wählt, um das Leben wärmer "zu machen."

Es ist die europäische Haltung der Gegenwart geworden. Die - soweit darf man hier replizieren - die Frage nach Gott, die faktisch-praktisch nicht und nicht verschwindet, schlichtweg verdrängt, und einem Irrationalen anheimstellt, das aber nicht deshalb irrational ist, weil es die Vernunft übersteigt (wie in der Religion und der Kunst, diesen beiden Eckpfeilern des ganzheitlichen Menschseins), sondern das der Vernunft prinzipiell entgegensteht. Weil das aber im rationalen Gebilde der herrschenden Anschauungen nicht mehr widerspruchsfrei unterzubringen ist, weil dieses überhaupt nicht mehr widerspruchsfrei bleiben kann, weil es auf der Suche nach dem ist, was es voraussetzte - dem sinngebenden Zusammenfassenden - zerfällt die heutige Welt: weil ihre zur Gestalt proklamierte Vernunft zerfällt.

Deshalb muß man sich gar nicht weit aus dem Fenster lehnen, wenn man den Kampf aller gegen alle prognostiziert. Er ist unausweichlich, weil zunehmend jeder dem anderen zur Bedrohung wird - Hernegger zeigt es sehr gut: Weltanschauung (die sich immer aus Religiosität nährt) wird zur positivistisch zu lösenden Identitätsfrage, damit zur Frage um Leben und Tod! Das wird dann eintreten, wenn der "Friede" seine gewaltherrschaftliche, konkrete Gestalt (die er im Moment noch nicht auf den Höhepunkt getrieben hat, das steht noch bevor) nicht mehr ausreichend bewahren kann, was nur eine Frage der Zeit ist.

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