Und so stellt sich manchmal die Frage, ob es denn sein könne, daß man mit dem, das wahrzunehmen man so sicher ist, alleine, gegen alle denkt und wahrnimmt? Aber die Erfahrung lehrt, daß dies über die Zeit gerechnet keinesfalls stimmt. Betrachtet man die Geschichte des Denkens, finden sich nahezu immer jene Spuren der Vernunft, denen man selbst gefolgt ist - was spielt Zeit, Epoche da für eine Rolle? Es sind immer dieselben Strömungen, Stimmungen, Geisteshaltungen, die auch dieselben Gedanken evozieren, nur der geschichtlichen Situation mehr oder weniger angepaßt. Trost findet man allerdings dann meist in Zeiten, wo heutige oft genug völlig verfilzte Problemkomplexe ihre Einzelfaktoren in den Anfängen zu entwickeln begannen.
Aber es gibt das Vergessen, und das immer dann, wenn eine Kultur am Ende ist. Ja, das Vergessen (und das einhergehende Verschwinden) ist die Ursache eines Endes einer Kultur, die sich im Tod selbst demontiert. Und es gibt das Verdrängen. Aber mit Geduld und Hartnäckigkeit, oft auch als Frucht der Treue der Wahrheit gegenüber, an der man teilhat, finden sich immer wieder eben dieselben Schienen, auf denen man selbst steht, im Nebel des gestern, dann wieder auf Lichtungen, die auf keiner Landkarte mehr verzeichnet sind.
So fand ich einen schon so lange verfolgten Gedankenkreis von mir, dessentwegen ich häufig genug angefeindet, ja beschimpft und verleumdet worden war, in einem Buch von Viktor von Weizsäcker aus den 1950er Jahren längst durchgedacht. Weizsäcker schließt mit seinen Gedanken einen Kreis, der bis zu C. G. Jung und theologischen Überlegungen über das Opfer geht. Denn er sieht die Bedeutung des subjektiven Opfers für die Persönlichkeitsentwicklung, und er sieht die Zusammenhänge zwischen all den individuellen Entwicklungen und großen, scheinbar "übermächtigen" Vorgängen, denen nicht selben heute Eigengesetzlichkeiten unterstellt werden - dabei sind die Zusammenhänge zwar komplex, aber logisch stringent aufweisbar.
Weizsäcker ist, abgesehen von seiner beachtlichen Familien- und Ahnenreihe, nicht irgendwer: die Begründung der psychosomatischen Medizin sowie der Medizinischen Anthropologie im 20. Jhd. geht auf ihn zurück.
Er hat viel darüber gearbeitet, wie der Sozialstaat sich - und zwar durchaus fatal - auf das soziale Leben eines Volkes auswirkt.Weil die Situation einer so weitgehenden erfahrenen Lebenssicherheit im Einzelnen die entscheidende Grundhaltung - und das ist die des Opfers, des Selbstübersteigens - für die Persönlichkeitsentwicklung gar nie entwickeln läßt. Damit öffnet sich diesem Grundwissen, daß in der Psyche tief verankert ist, der ganze dunkele Keller der Ersatzwege - und damit, übrigens, steigt eine fatale Anfälligkeit für den politischen Mißbrauch dieser Opferbereitschaft. Ganze politische Bewegungen setzen sich auf diese unbewußt bleibenden und damit vom Einzelnen unkontrollierbaren Antriebspferde. (Nicht zuletzt seien hier die Grünbewegungen und sonstige scheinbar übermächtige Bedrohungsszenarien genannnt.) Es wird hier sicher noch mehr darüber zu schreiben sein.
"Ein erzwungener Beitrag zur Versicherungskassa, den man nicht selbst erspart, sondern nie gesehen und ergriffen hat, wird bald unbewußt und dann weder als Opfer noch als Pflicht im einzelnen Bewußtsein realisiert. Die Gemeinschaft kann nicht voll ausgleichend für die Opfer des Verkehrs eintreten."
Weizsäcker behandelt in "Ärztliche Gedanken zu einer Versicherung und Sicherung" genau das, was die politische Absicht der "Entpersönlichung" des Sozialen, um Verbindlichkeiten aus dem Weg zu räumen, die zugleich soziale Bezüge (v. a. Abhängigkeiten) stärkt wie schafft, die aber den jeweiligen politischen Zielen entgegenstehen, als Kollateralschaden übersehen hat, oder übersehen wollte.Der Sozialstaat ist genau das nicht, was er vorgibt zu sein - eine soziale Tat!
Sondern er ist ein politischer Destabilisierungsakt eines sozialen Gefüges, und wirkt sich desaströs auf persönliche Haltungen und Tugenden aus. Das bloße, scheinbar so "unschuldige" Geld-Umverteilen hat eben dramatische persönliche Auswirkungen, und interessanterweise weiß die Linke das sehr gut.
Entsolidarisierung (und genau diese ist heute als Massenphänomen zu beobachten) ist aber unter anderem die Folge der "Sicherung" aus der Versicherung, weil das individuelle Opfer nicht mehr wirklich gefordert wird, sondern erneut in einer Reihung von Wertungen untergeht: WER aus einer Gemeinschaft ist zuallererst verpflichtet zu opfern? Und hier bleibt plötzlich dem Einzelnen nur noch die subjektive Urteilsbasis.
Womit sich der Kreis dieser Zeilen schließt.
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