Vielmehr bleiben weit mehr Mutationen bestehen bzw. bleibt jede Gestalt gleichwertige Gestalt, unabhängig vom Anforderungsdruck von außen, erhöhen also lediglich die Variantenzahl der bestehenden Art. Das läßt Rückschlüsse auf die Wirkung der Selektion zu, die offenbar nicht die einengende Funktion übernimmt, die man von ihr annehmen wollte. Oder: mußte, denn das Zusammenwirken von Mutation und Selektion ist die entscheidende Grundlage für jene Hochrechnungen, die größte Bedeutung für die Evolutionsthesen an sich haben, weil fast sämtliche Zeitbestimmungen auf sie aufbauen. Nur bei entsprechenden Wahrscheinlichkeiten (die Realität der Mechanismen vorausgesetzt) könnte man ja überhaupt davon sprechen, daß eine (immer: mechanistische) Evolution möglich ist. Nur wenn die Selektion die Varianten eingrenzt (somit die "tauglicheren" übrigbleiben), bleibt die Rückverfolgung des Stammbaums der Arten unter diesen Annahmen sinnvoll.
Um genetische Veränderungen im Verlauf vieler Generationen experimentell zu untersuchen ist man auf Organismen angewiesen, die eine kurze Generationszeit aufweisen. Entsprechende Langzeitstudien mit Bakterien und Hefekulturen sind beschrieben. Diese sich asexuell fortpflanzenden Organismen stellen die bisherige empirische Basis dar für Modelle und Mechanismen von Langzeit-Evolutionsprozessen.
Burke et al. (2010) stellten kürzlich eine Studie mit der Taufliege Drosophila melanogaster vor – einem klassischen „Haustier“ der Genetiker. Damit liegt erstmals eine umfangreiche genetische Studie eines Langzeit-Evolutionsexperiments mit Organismen vor, die sich sexuell fortpflanzen.
Im Labor von M. Rose werden die kleinen Zweiflügler seit 1991 inzwischen in mehr als 600 Generationen gezüchtet und auf schnellere Entwicklung selektiert. Die gezüchteten Populationen entwickeln sich im Verhältnis zu Tieren der Ausgangs- und Vergleichsgruppe ca. 20 % schneller vom Ei bis zum erwachsenen, fortpflanzungsfähigen Tier. Damit einher geht auch die Entstehung veränderter Phänotypen (=äußeres Erscheinungsbild) (etwa bezüglich Größe, Lebensdauer etc.).
Für die Untersuchung wurden Daten aus umfangreichen Genomanalysen erzeugt. Es wurden sowohl spezielle Gene analysiert (bezüglich Änderung in der Allelhäufigkeit: allele frequency differentiation) als auch komplette Genomdaten von Drosophila-Populationen aus dem Selektionsexperiment herangezogen. (Allele sind Varianten eines Gens.)
Bisher war man meist davon ausgegangen, dass bei sexueller Fortpflanzung wie auch bei der Entwicklung von Bakterienkulturen genetische Veränderungen (Mutationen) in einer Population auftauchen und dann in einem bestimmten Erbgutabschnitt fixiert werden. In ihrer Arbeit suchten Burke et al. nach positiven (Punkt-)Mutationen, die ein neues Basenpaar und damit einen neuen sog. SNP (Einzelnukleotid- Polymorphismus) erzeugen. Von Polymorphismus spricht man, wenn ein Gen (bzw. ein entsprechendes Merkmal) in mehreren Ausprägungen (Allelen) vorkommt. Mutationen vergrößern also den Polymorphismus. Bei SNPs betrifft der Polymorphismus nur ein einziges Nukleotid (=Einzelbaustein des Erbmoleküls DNA).
Neue SNPs sollten sich dann in der Population durchsetzen, d. h. alternative Sequenzen sollten verschwinden und damit die Vielfalt der SNPs verringert werden. Aber genau das wurde nicht gefunden, es konnten also im Drosophila-Genom (=gesamtes Erbgut) keine Bereiche identifiziert werden, in denen die erwarteten Effekte (geringerer Polymorphismus) auftraten. In dieser Langzeitstudie mit sich sexuell fortpflanzenden Organismen läuft Evolution gemessen an den Erwartungen in viel geringerem Umfang ab.
Die Autoren prüfen und diskutieren verschiedene Erklärungen für diesen Befund, ohne dass sie selbst eine davon beim derzeitigen Kenntnisstand als überzeugend einstufen. Die Laborbeobachtungen zeigen also, dass Selektion die genetische Variation in sich sexuell fortpflanzenden Populationen nicht wie erwartet reduziert. Bisher gilt als Lehrmeinung, dass Selektion, insbesondere wenn sie stark ist, im Laufe der Zeit zu deutlicher Verringerung des Gen-Polymorphismus, also der genetischen Vielfalt führt. Das konnten Burke et al. (2010) in ihrer Studie mit den Langzeit-Experimenten an Drosophila aber gerade nicht belegen. Das bedeutet, dass mit diesen experimentellen Resultaten der Einfluss von Selektion – bei der natürlichen Selektion handelt es sich um einen zentralen Evolutionsmechanismus – nicht bestätigt werden konnte.1
Da unter natürlichen Bedingungen die Selektionskriterien weniger stark und nicht über viele Generationen gleichbleibend ausgeprägt sind, kann man davon ausgehen, dass der ursprünglich erwartete Effekt unter Freilandbedingungen noch weniger auftreten wird.
Damit ist ein grundlegender, bisher angenommener Mechanismus für die Entstehung neuer Arten durch Selektionsprozesse in Frage gestellt. Weitere Forschung sollte dazu beitragen, die Abläufe besser zu verstehen.
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