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Samstag, 29. Januar 2011

Verwandlungsmacht

"Die Richtigkeit aber einer Theorie macht noch nicht den Wert einer Kunst, diesen bestimmt allein ihr bildnerischer Rang: das Maß an Lebendigkeit, Schlüssigkeit und Ursprünglichkeit des künstlerischen Tatbestandes, der in einer jeweiligen Schöpfung verwirklicht und Zeugnis ist produktiven, augensinnlichen Erlebens.

Es fragt sich nun, ob solches Erleben anders als durch die Auseinandersetzung erwachsen kann mit etwas, das nicht Kunst ist, nämlich die sichtbare Umwelt mit der Fülle ihrer Gestalten und dem unergründlichen Geheimnis ihrer Gewachsenheit. Übertreffen zudem Landschaf, Mensch, Tier, Pflanze an Ausdruckskraft und Ausdrucksdifferenziertheit nicht alles, was der Mensch aus sich selber erfinden kann?

Denn alle jene Dinge der Natur, wofern sie der Künstler gestaltet, sind ja nicht mehr bloße Oberflächenbilder, wie es von der modernen Seite immer wieder behauptet wird, sondern sie sind echte Bildprozesse: der Wasserfall von Wang-Wei, China, 10. Jhd., ist Bild des Stürzens, Fließens selbst, genau wie Baum und Laub im frühen Holzschnitt Dürers Bild des Wachsens, des Sprossens.

Die Macht der Kunst ist es, die seit eh und je die Gegenstandwelt erlöst in eine des Geschehens. Hier also ist nicht der entscheidende Unterschied zu suchen von früher und heutiger, der sogenannten modernen Kunst, sondern allein in der nie dagewesenen, überhellten Bewußtheitslage, die den Schaffensdrang autonom setztund nunmehr ohne jegliches Medium die Natur an sich als ein Wirkfeld geheimnisvoller Kräfte aussagen will.

Gibt aber eine Kunst, die kein antwortend Gegenbild mehr kennt von Mensch zu Ding, die sich aus den Gründen menschlicher Innenschichten speist, nicht eine durch Jahrtausende gewordene Bildsprache auf, um in eine seltsame Primitivität zu geraten von höchster Bewußtheit? Es ist bemerkenswert, daß schon Goethe warnt vor dem "Aus-sich-selber-schaffen", da es falsche Originale und Manieristen mache."

Emil Preetorius in "Geheimnis des Sichtbaren"

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