Demgemäß sind 2010 in Österreich über 80.000 Menschen (die wirklichen, genauen Zahlen hat man ja noch immer nicht bekanntgegeben!) aus der Kirche ausgetreten. Das ist nicht wenig, schon gar, wenn man die Zahlen der letzten Jahre kumuliert:
2010: 80.000+
2009: 53.216
2008: 40.596
2007: 36.645
2006: 51.216
2005: 43.855
2004: 51.731
2003: 40.654
2008: 40.596
2007: 36.645
2006: 51.216
2005: 43.855
2004: 51.731
2003: 40.654
In Summe also 397.913 Austritte seit 2003, das sind rund 8 Prozent (jeder 12.) der Katholiken Österreichs. Ich habe seinerzeit eine Hochrechnung angestellt, nach welcher die Kirche Jahr für Jahr rund 2 % ihrer Finanzkraft (denn die Austretenden sind meist nicht die eifrigsten Beitragszahler) verliert.
Eine Herausforderung, wie Kardinal Schönborn meinte. Und es klang wie eine Botschaft einer seiner Neuevangelisierungsgrüppchen: erleichtert, daß die, die nicht wirklich glaubten (wie eben jene letzten Getreuen), endlich weg sind. Aus deren Kreisen übrigens stammen ja auch jene Bestrebungen, den Kirchenaustritt (v. a. in Deutschland) generell vom Akt des Glaubensabfalls (der ipso facto Exkommunikation, also: Selbstexkommunikation zur Folge hat) zu trennen.
Da hieß es sogar, man müsse "Institution" und "mystischer Leib" trennen. Was blanker und primitivster Protestantismus ist. Aber nicht zuletzt "konservative Kreise" waren es, die speziell in Deutschland forderten, dies offiziell zu verkünden. Und die dabei bemerkenswerte Flexibilität in ihrer lauthals verkündeten dogmatischen Treue bewiesen, denn immerhin gibt es spätestens seit den Auseinandersetzungen mit dem britischen Protestanten Wycliff (der eigentlich den ganzen Reformations- und Schwärmerzirkus in Europa ausgelöst hat) päpstliche Schreiben, die genau solche (der Metaphysik der Kirche widersprechenden) Aussagen - vereinfacht: Institution und innere Gemeinschaft zu trennen - verurteilen, und zwar per "anathema sit" - "der sei ausgeschlossen". Man lese nur im Denzinger nach.
Dabei hat (da muß man den deutschen Bischöfen ausnahmsweise mal zustimmen) man dort richtig differenziert, ich habe es hier schon einmal dargelegt: Ein Kirchenaustritt kann viele Gründe haben, und es ist kaum möglich mit jener Gewißheit, die eine Exkommunikation sicher mache, auch zu behaupten, daß jeder Ausgetretene auch den innere Akt des Abfalls, der Verweigerung des Heils setze. Darauf beziehen sich auch entsprechende vatikanische Schreiben der letzten Jahre.
Es geht also darum, ab wann ein Akt "vollkommen" und damit "erst wirklich wirklich" ist, und wann nicht, sodaß der Ausgetretene also immer noch mit einem oder meheren Fäden an der Kirche hängt, und nur verärgert, verhetzt oder was auch immer ist. Die volle Wahrheit kennt ja nur Gott. Fest steht ja, daß nur formal und von außen exkommuniziert werden soll, wer sich - zuvor und hauptsächlich (so steht es geschrieben*) - sich selbst exkommuniziert hat. Und dazu hat das menschliche Urteil vor allem ... das Äußerliche. Was soll man von jemandem halten, der sagt: ich möchte mit der Kirche nichts mehr zu tun haben!?
Umgekehrt muß man nämlich auch festhalten, daß ein "formaler" Kirchenaustritt immer zumindest ein erster Schritt des Abfalls vom Heil ist, und damit Abfall (Apostasie) ist! Das trennen zu wollen ist nicht möglich, und würde die Sakramentenlehre der Kirche bzw. die Metaphysik die sie zeugt wie die ihr zugrundeliegt, umwerfen. Wer aus der Kirche austritt, setzt auf jeden Fall einen Schnitt, der diese letztlich kraft Taufe unlösbare, auf allen Ebenen wirkliche Verbindung wenn schon nicht aufhebt, das geht nicht (die Taufe setzt ein unauslöschliches, eben wirkliches Merkmal), so doch zum Ersterben bringt. Es bleibt beim Getauften, der sich aber von der Kirche abwendet, also nur noch der deklarierte Anspruch, als Kategorie gewissermaßen nach der im Gewissen zu urteilen ist, den zu erfüllen man sich weigert. Ein Same, der nicht mehr verschwindet, aber nicht mehr aufgeht.
Und weil in dem Fall, rein praktisch gesehen, Marx recht hat - wonach das Sein das Bewußtsein bestimmt - hat ein "figuraler" Abfall immer auch seelische Sofort- und vor allem Folgewirkungen. Nicht zuletzt im Gewissen der Betreffenden, das eigentlich immer deutliche Rechtfertigungs-Schlagseite im Urteil aufweist. Und weil ein Gewissen, das sich auf Maßstäbe beruft, die es selber zu schaffen hat, nicht funktioniert, weil also der Gewissenssatz, man habe es hier mit einer unfreiwilligen und bösartigen Sozialisationsschichte zu tun, die zu eliminieren sei, trifft man hier gleichfalls auf beträchtliches, meist mit viel Aufwand unterdrücktes Aggressionspotential.
Kirchenaustritte sind also nicht, wie manche meinen, Entspannungsventile, wo manche nur erst mal zur Ruhe kommen müßten, sondern steigern den Kirchenhaß der Öffentlichkeit zum inkulturierten Reflex. Als mehr oder weniger verzweifelte Reaktion der "ausgetretenen" Getauften, die Ursache der Unruhe zu beseitigen, weil das häufigste Argument, diese Gewissenslage sei unzulässiger Sozialisierung zu verdanken, nicht greift. (Jeder verdankt seine Gewissensgrundlage jemandem.) Gerade eben wegen dieser Heilsnotwendigkeit wird so manches kirchliche Vorgehen, so manches persönliche Verhalten des Klerus als Zynismus, ja Verhöhnung empfunden.
Wer aber die Kirche haßt, haßt die "große Urmutter" (worin ja der Haß auf die Kirche so maßgeblich und untergründig motiviert ist), und wer austritt, versucht sie zu töten. Wie Orest muß er mit den Rachegöttinnen, den Erynnien, rechnen. Das sollte man zumindest wissen.
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