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Donnerstag, 19. September 2013

Wie wir uns selbst den Strick drehen

Es sind oft kaum beachetete Dinge des Alltags, die sich in einer so selbstverständlich gewordenen Mechanik äußern, daß wir gar nicht merken, wie wir mit der linken Hand tun, was wir mit der rechten bekämpfen.

So gesehen in der Diskussion um die Errichtung einer neuen U-Bahn-Linie 5 in Wien im Standard. Beim Lesen der Kommentare nämlich fällt auf, wie viele der Leser der Faszination eines besseren "Funktionierens" des öffentlichen Verkehrs erliegen, die als bloße Systemoptimierung aufgefaßt wird. 

Denn erstaunlich viele Leser bringen ihre Ansicht zum Ausdruck, nach der eine neue U-Bahn-Linie deshalb gerechtfertigt wäre, weil in den derzeit bestehenden Verkehrsmitteln so viel an Menschlichkeit zu ertragen wäre, die mit technisch perfekteren Mitteln ausgeschaltet werden könnte. Der Straßenbahnfahrer, der unfreundliche Momente hat, die Leute die sich unbeholfen benehmen, die Dauer innerstädtischer Bewegung, und so weiter.

Je steriler, technisch perfekter, rascher der öffentliche Verkehr also wäre, je mehr zwischenmenschlichen Spannungen - und das Wesen der Mitmenschlichkeit ist Spannung - auszweichen er hilft, je mehr er diese Zwischenmenschlichkeit überhaupt verhindert, so das Fazit, desto mehr wird er als positiv eingeschätzt. Indem "positiv" mit "technischer Ablaufoptimierung", mit weiterer Fragmentierung des Alltags in Einzelzwecke gleichgesetzt wird. 

So schaffen wir uns in solchen Alltäglichkeiten täglich mehr jene gnadenlose Umwelt, an der wir zutiefst ohnehin schon leiden. Und so mancher, der diese Optimierung fordert, wird vermeinen, sie genau aus dem Bedürfnis der Erhöhung der Menschlichkeit fordern zu sollen. Erlegen der Faszination, die eine Maschine als Destillat des Zwecks ausstrahlt. In der simplen, an sich ja nicht einmal falschen Gleichsetzung von "technisch einem Zweck optimaler = gut". Aber was "gut" ist, ergibt sich als Sinnerfüllung erst aus einer übergeordneten Dimension.

Technik ist, oder kann sein, ein Mittel der Kultur. Aber sie IST nicht Kultur. Um Kultur zu definieren, braucht es aber eine Klärung der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Wesen des Menschen. Daraus ergibt sich die Antwort auf die Frage nach dem Gesollten, und daraus nach der Sinnhaftigkeit von Technik. Kultur ist ihrem Wesen nach nicht technikfeindlich, aber sie begreift sie als stachelige Frucht. Denn Technik ist sehr - sehr! - schnell kulturfeindlich. Die Höhe einer Kultur läßt sich deshalb nicht am Umfang der Verwendung von Technik ermessen, sondern an der Art und Vorsicht, in der sie sie entwickelt und einsetzt. Wuchert die Technik aus, überschreitet sie gewisse sehr menschlich-individuelle Grenzen, ist das historisch verfolgbar immer gleichbedeutend mit dem Tod der Kultur.

Es besteht deshalb eine Rückkoppelung zwischen Technik und Kultur, die sich in der Persönlichkeit ihrer Teilnehmer ausdrückt. Zum einen wächst die technische Lösungskraft aus der Fähigkeit zur Abstraktion, einer Persönlichkeitskraft, zum anderen aber beginnt die Technik die Bildung der Persönlichkeit zu beeinflussen - und baut sie sehr schnell ab. Weil sie Persönliches, zu Leistendes auf Mechanismen auslagert. Diese Kraft wird nicht mehr aufgebaut. Die Technik beginnt also die Kultur zu übersteigen. Gleichzeitig wächst die Versuchung, diesen Mangel an Persönlichkeit und Kulturkraft durch Steigerung des Einsatzes von Technik zu kompensieren.

Die Technik liefert somit zunehmend Ergebnisse, die den Nutznießern nicht mehr entsprechen, sie übersteigen. Lebensfrucht und Lebensleistung beginnen immer weiter auseinanderzustehen. Damit liefert die Realität des Alltäglichen keine persönlichkeitsadäquaten Wirklichkeiten mehr, der Einzelne hat mehr, als ihm zusteht, vereinfacht gesagt. Aber das ist noch schlimmer in seinen Auswirkungen, als umgekehrt. Denn damit fallen die Menschen in sich zusammen, weil sie sich einem Allgemeinen ausliefern, einer Vermassung, die ihnen einzig noch Halt gibt. Sie beginnen, ihr Selbst zu konstruieren, um dem Außen zu entsprechen.

Diese Diffundierung des Selbst spürt nämlich jeder Einzelne, und so greift er umso mehr zur Technik, die zur existentiellen Sphäre des Selbst wird, die zu lassen in den tiefsten Seelengründen und -ängsten anrührt. Bis die Ablehnung von Technik, etwa durch andere, zur manifesten Todesdrohung, zum sichtbaren Dunkel des Nichts wird, weil scheinbar alles Leben in Technik und Mechanik gründet. Die Gesellschaftsform zerfällt, und jeder wird jedem zur Bedrohung, ja die Wirklichkeit selbst wird zur Bedrohung, weil sie die konstruierten Persönlichkeitsgerüste ins "Nichts" werfen könnte. Und freiwillig wählt eine solche Gesellschaft ein immer stärkeres, umfassenderes Gesellschaftssystem, das verhindern soll, daß Einzelne und daß Wirklichkeiten bedrohlich werden.

Ein Stadium, auf das wir seit Jahrhunderten sehr gezielt zugesteuert sind, das im 19. Jhd. einen Quantensprung vollzog, und uns heute in Reinform entgegentritt.




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