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Montag, 12. Juli 2021

Hält Przemysl? (1)

Als Dr. Jan Stock, der oberste Proviantoffizier und Vizekommandant der Festung Przemysl, es niederschrieb war er nach eigener Aussage selbst erschrocken. Denn er war doch ganz sicher immer liberal und weltoffen gewesen. Der durch zahlreiche Zeugnisse höchst vernünftige, gleichermaßen kühl denkende wie kluge Mann gestand sich nun aber etwas ein, von dem er nie geglaubt hätte daß er es eines Tages so sehen würde - daß nämlich die Vorurteile über Juden zuträfen. 

Denn was sich während der Belagerung dieser k.u.k-Festung, die vom 5./6. Oktober 1914 - mit einer dreiwöchigen Entsatz-Unterbrechung im November - bis zur Kapitulation am 22. März 1915, Schlag sieben Uhr morgens, dauerte und über enorme Härte, Notz und Hunger ging und die längste Belagerung (als wehrhafte Vollumschließung durch einen Feind) des Ersten Weltkrieges war, ließ auch in seinen Augen kein gutes Haar an ihnen. Und das sahen alle Eingeschlossenen so, die in ihrer völkischen und sprachlichen Vielfalt wie eine Widerspiegelung der zahlreichen Völker und Volkschaften der Habsburger Monarchie wirkten. Aber mitten in der zunehmend schneidender werdenden Lebensmittelknappheit aus der Not der Mitmenschen auch noch dermaßen brutal Profit zu schlagen, zeigte einen Grad an moralischem Verfall, den niemand sonst in Przemysl (wo über Jahrhunderte ein hoher Anteil an Juden nie wirklich geliebter Teil des Weichbildes der Stadt war) fassen konnte.  

Bereits Anfang Dezember 1914 war klar, daß jeder Versuch der Armee der Habsburger Monarchie, den Belagerungsring der Russen (eigentlich: ein zweites Mal; denn Ende Oktober war es für drei Wochen gelungen, ehe Feldmarschall Conrad seine zusammengeschossenen und demoralisierten Armeen mit insgesamt 600.000 Mann um ganz 150 Kilometer nach Westen zurücknehmen mußte, wollte er nicht endgültig den Krieg verlieren) zu durchbrechen, gescheitert war. 

Auch die vor allem dank der heldenhaften ungarischen Husaren - sie waren mit ihren 18.000 Mann zu Anfang der Belagerung fast der einzige Teil der insgesamt 130.000 sich "Soldaten" nennenden, offiziellen Verteidigungsstreitkraft unter dem Festungskommandanten Generalleutnant Hermann Kusmanek von Burgneustädten, der den Namen "Streitmacht" verdiente. Fronterfahren und mutig lag vor allem zu Beginn der Einschließung durch die russische 2., 8. sowie 9. Armee (jeweils in den Phasen und Aufgaben vermischt) eine Hauptlast des Kampfes auf ungarischen Schultern. 

An eine wirkliche Bedeutung der Festung Przemysl in einem kommenden Kriege hatte in Wahrheit niemand mehr geglaubt. Je näher das Jahr 1914 kam, desto weniger. So war der Ausbau bis 1880 noch in Schwung verlaufen, aber bald ziemlich erlahmt. Vor allem Kusmanek war es zuzuschreiben, daß wenigstens die eigentlichen Befestigungen halbwegs gut und modern ausgebaut worden waren, trotz aller Sparmaßnahmen. Aber die Geschütze, die Krone jeder Festung, waren teilweise schon 50 und mehr Jahre alt, und den zeitgenössischen Armeewaffen in Feuergeschwindigkeit Reichweite weit unterlegen. 

Der österreichisch-ungarische Generalfeldmarschall Conrad von Hötzendorf hatte nicht mehr recht an ein Abwehrsystem geglaubt, in dem Przemysl eine entscheidende Rolle spielen konnte. Viel zu sehr von sich eingenommen, was leider hieß: in Traumwelten lebend, hatte er sich vielmehr in Phantasien von großen Zangenbewegungen verstiegen, in denen er jedem Angreifer durch kluge Bewegung der kaiserlich-königlichen Armeen ausmanövrierte und grandios besiegte. Ganze dreimal (!) während all seiner Jahre als Generalfeldmarschall war Conrad überhaupt an der Front gewesen, das heißt: im Krieg. Er sah sich viel eher als großer Stratege. Der er ja irgendwie sogar war, der aber nur auch ein erfolgreicher Schlachtenlenker gewesen wäre, hätten halt andere Umstände auch mitgespielt. 

Sprich: Die Realität der Armee eines Vielvölkerstaates, der von Zentrifugalkräften zerrissen zu werden drohte, und nur noch durch die Person des Kaisers selbst, also durch keine Idee von Zukunft und Lebenswelt in diesem flächenmäßig zweit-, einwohnermäßig drittgrößten Staat Europas zusammengehalten wurde, war anders. Mit deren Realität hatte es Conrad jedoch nicht so recht. Und während er an Strategien arbeitete, die nicht einmal schlecht waren, die in der Gegenoffensive 1915 auch die preußische Führung beeindruckt hatten, sodaß sie seinen Vorschlägen weitgehend folgten, die auf eine Zangenbewegung setzte, die Italien auch 1917 so unter Zugzwang brachte, daß er in der 12. und endlich letzten der Isonzo-Schlachten (über den drohenden Einbruch im Rücken, von Südtirol her,) die unter so unglaublichen Opfern gefochten worden waren, zu einem Durchbruch der Österreicher führte. In dessen Folge sich die Italienische Armee (die insgesamt schon über 1 Million Tote - für welches Kriegsziel! - zu beklagen hatte) fast auflöste, und der die Habsburger Armeen bis an die Piave trug, wo erst Hochwasser und die amerikanischen Streitkräfte (mit einem unbedeutenden Infanteristen namens Ernest Hemingway darunter) einen Halt bewirkt haben, ehe Italien ganz besiegt war. Aber es waren eben alles Teilsiege, denen dann doch ganze Niederlagen folgten.

Und die von 1914 im Osten hätte ums Haar innerhalb von sechs Wochen dem Habsburgerreich den Garaus gemacht. Die Bewegungspläne Conrads waren gleich zu Beginn an der Realität bitter gescheitert. Konfrontiert mit einer völlig neuen Kriegsführung, waren die Conradschen Offensivträume innerhalb weniger Wochen ausgeträumt. Eine Million Soldaten, vor allem aber 90 Prozent der Offiziere, lagen innerhalb 40 Tagen im Blut, und Ersatz gab es - noch - nicht. Der kam erst nach und nach, durch unter dem erlittenen Schock blitzartig ausgehobene Jahrgänge, die in wenigen Wochen wenigstens so weit ausgebildet wurden, daß sie ihr Gewehr am richtigen Ende anfaßten. 

Denn es waren die besten, die mutigsten, die edelsten, getragen von einem Kriegsethos der Ehre, der gegenüber Maschinengewehren, Stacheldraht und Artilleriewalzen schrecklich scheitern mußte, und vorangetrieben von einer obersten Armeeführung, die als unfähig zu bezeichnen noch ein Lobeswort wäre: Korrupt, von Ehrgeiz zerfressen, inkompetent und eitel, versoffen und verlebt, moralisch unter jeder Kritik. Selbst der Gottoberste der Armee der Monarchie, Feldmarschall Conrad, ließ sich seine junge Geliebte aus Wien in sein Hauptquartier nach Krakau kommen, und während die Soldaten zu hunderttausenden verbluteten, nahm er Urlaub ... 

Tagelang war er oft unansprechbar, weil er vor Eifersucht verging, wenn er sie in Wien wußte und nicht bei ihr sein konnte. Fast täglich schrieb er ihr Briefe, während die übrigen Kommandeure auf Befehle warteten (oder auch nicht), die dann ohnehin nicht oder zu spät kamen, nicht koordiniert und oft einfach nicht ausgegoren waren, weil sein Geber in Welten lebte, die es nicht gab. (Der VdZ weiß, daß andere FM Conrad anders weil im weit über den Bürokratendurchschnitt liegendem Genie verkannt und durch Wiener Hofintrige und Kollegenneid zu Fall gebracht, er bezieht sich hier aber nicht nur auf das Urteil von Watson.)

Hätten nicht auf der russischen Seite zwar andere, aber in der Auswirkung ähnliche Verhältnisse geherrscht, sodaß die Russen aus ihren Anfangssiegen immer wieder nichts machten, hätte es schon nach diesen wenigen Wochen noch schlimmer ausgesehen. Selbst Tannenberg, dieses "Ruhmesblatt teutonischer Schlachtengeschichte und Hindenburgischen Genies", war der Eitelkeit zweier russischer Generäle zuzuschreiben, die sich zu gut waren, ihre beiden Armeen so zu koordinieren, daß der Hindenburgsche Überraschungsschlag gar keine Chance gehabt hätte, und Ostpreußen tatsächlich, so wie ja geplant, den Russen überlassen werden hätte müssen, bis die Franzosen besiegt ... ach ja: besiegt? ... gewesen, die Armeen frei für den Osten gewesen wären. Ein toller Plan, der wie viele tollen Pläne auch bei den Deutschen Generalsgenies einen kleinen Mangel hatte: Er hatte nicht mit der Realität einer modernen, hoch-beweglichen und genau dadurch nicht mehr steuerbaren Armee gerechnet ... Napleon hatte das zwar auch schon gewußt, aber auch er hatte es letztlich nicht verhindern können.

Während die Habsburgischen Armeen in angesichts einer drohenden Einkesselung von Süden her immer heilloserer Flucht zurückflossen, flossen sie auch durch Przemysl. Unglaubliche Szenen sollen sich auf dem Heerwurm abgespielt haben, in denen ein Troß von Millionen sich mit Flüchtlingsmassen mischte, Pferde panisch brüllten weil von sinnlos auf sie einschlagenden Husaren blutig geprügelt wurden und zusammenbrachen, nur noch unzulänglich adjustierte Kanoniere ohne Kanonen die Häuser auf der Suche nach Eßbarem plünderten, Offiziere als uraltem Adelshaus erfolglos versuchten Ordnung zu schaffen und ihre Regimenter suchten, die es nicht mehr gab, ehe sie sich im Hinterzimmer eines verlassenen Cafés in Novy Tepec nad San/Neu Teppau am San, erschossen, Unteroffiziere verzweifelt Fahnenflüchtige suchten, Wägen organisierten, und Deserteure hängten, und ein wahres Babylon an Sprachverwirrung den Höllenlärm eines nahezu zusammengebrochenen Heeresapparates durchdrang, der nur noch eines wollte: "Zurück! Richtung Westen! Die Kosaken kommen!"

Aber in diesem Chaos wurde immer mehr die Bedeutung klar, die nun dieser Festung zuwuchs: Nur sie konnte die Russen aufhalten. Und zwar so lange, bis Franz Graf Conrad von Hötzendorf im Westen Galiziens neue Armeen formiert und aufgestellt hatte, um der russischen Dampfwalze wieder effektiv entgegentreten zu können. So lange brauchte es Przemysl, und zwar so lebensnotwendig, daß das Schicksal der Monarchie davon abhing. Täglich herrschte deshalb auf den Straßen in Wien und allen Städten des Reiches die eine besorgte Frage:

HÄLT PRZEMYSL? 

Täglich wurden neue Berichte von der Front gedruckt und von der Bevölkerung verlangt, die zum einen den Selbstbehauptungswillen der Menschen stützen und neu aufrichten sollten, die zum anderen doch aber auch von der Realität Zeitung geben sollten. Und wenn der Ehemann am Morgen sich aus dem Bett in der Wiener Gentzgasse hob, hastig den Kaffee seines Weibes hinunterbrannte, war es eine Frage, die ihn antrieb, so rasch als möglich beim Czerny unten im Lokal sein Kinn schaben zu lassen, während die Wartenden die neuesten Gazetten aus Prag, Brody, Budapest und Jaroslaw diskutierten, weil alle von derselben Frage beherrscht wurden: Hält Przemysl?

Wird fortgesetzt.