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Dienstag, 13. Juli 2021

Hält Przemysl? (2)

Immerhin 48 Kilometer war dieses System aus Bunkeranlagen, Geschütz- und Infanteriestellungen und -gräben lang. Das relativiert die den unbefangenen Betrachter vielleicht erschreckend hohe Zahl von Verteidigern. Die aber zum großen Teil sowieso aus nur bedingt kriegstauglichen Rekruten zusammengesetzt war, die, wie sich bald herausstellen sollte, nach den ersten Schüssen des Feindes auf und davon liefen. Das Durchschnittsalter der Soldaten lag bei Mitte dreißig bis Mitte vierzig. Unternehmer, Verwaltungsbeamte, Bankdirektoren, oft weit über "Soldatenfigur" und in einer katastrophalen körperlichen Verfassung (bald sollten sie freilich radikale Fasten- ja Hungerkuren durchmachen müssen) in zwei Dutzend Sprachen, wo oft ein Soldat den Kameraden neben ihm nicht verstand.

Das alles befehligt von Offizieren, die kaum besser ausgebildet, und schon gar nicht mutiger waren. Die ihre Soldaten später dann schon bei ersten gefährlichen Situationen sträflich im Stich lassen würden, sodaß Kompanien (oder das, was von ihnen noch übriggeblieben war) von beherzten Korporalen, und Regimenter von Vizeleutnants "befehligt" wurden, die das nur "taten", weil sie zu feige gewesen waren, wie seine Vorgesetzten im russischen Artilleriefeuer zurückzulaufen. Nach den ersten schweren Angriffen Anfang Oktober würde es sogar eine Division geben, die von nur noch einem einzigen Leutnant, dem letzten von dutzenden Offizieren, befehligt wurden, dem ein routinierter Vizeleutnant (ein Charge, also nicht einmal ein Offizier) zur Seite stand, der aber wenigstens wußte, wie Dinge realisiert werden konnten. 

Aber solche Soldaten, die mehr an ihre Familien dachten, und an den heimatlichen Hof, oder an ihre - ein großes psychologisches Problem in der Festung - Häuser und Daheimgebliebenen in jenen großen Teilen Galiziens, die schon nach wenigen Wochen unter russischer Besatzung standen. Und das hieß wahrlich nichts Gutes. "Die Kosaken kommen!" war nicht nur unter den Habsburger Soldaten ein Ruf der Panik und des Schreckens, sondern erst recht unter der Bevölkerung, die sie überrollten. Die wußte, daß nun geplündert, gemordet, vergewaltigt und gefoltert würde, bis der letzte Tropfen Wodka aus den Flaschen geflossen war. 

Dabei war doch ein großer Teil der Bewohner Galiziens russophil, und träumte davon, endlich zum Großreich Moskau zu gehören. Vor allem die Priester wünschten diesen Tag herbei. Und je weiter östlich, desto mehr. Aber nun erlebten alle, daß sie nur noch russisch sprechen durften, und daß ein falsches Wort den Tod bedeuten könnte. So lebten die Bewohner von Lemberg und Tschernowitz und Tarnopol in einem Zustand zwischen allen Stühlen, völlig der bald zur Paranoia gesteigerten Mißtrauens zweier Herren - der Habsburger hier, der Russen dort. 

Die habsburgischen Soldaten in der Festung, die um ihre Angehörigen zitterten und in der Regel brav und kaisertreu waren, und dennoch mehr und mehr einen sich zum Wahn steigernden Verdächtigungsfeldzug ausgesetzt waren. Sodaß es zu regelrechten Pogromen kam! Der auch seine religiöse Dimension hatte. Wenn die mehrheitlich katholischen die griechisch-(russisch)-orthodoxen (und zwar selbst die Unierten) verdächtigten, die zahlreichen und (weil die Kuppeln oft vergoldet waren) in der Sonne weithin glänzenden Kirchtürme nur deshalb gebaut zu haben, um der erwarteten russischen Artillerie Zielpunkte zu bieten. 

Morde, Willkür war an der Tagesordnung, und schließlich genügte ein falsches Wort, eine verleumderische Verdächtigung, und man wurde vom Mob gelyncht. In ganz Galizien schätzt man, hat dies auf österreichisch-ungarischer Seite bis zu 40.000 Tote gekostet - durch das Standrecht, durch Schnellgerichte, durch Willkür und Lynchjustiz. Auf russischer Seite sind die Zahlen sicher nicht weniger hoch. Dort gibt es aber nicht einmal wenigstens irgendwie fundierte Schätzungen. 

Aber Przemysl, dessen Bevölkerung angesichts der sich nähernden "russischen Dampfwalze" (unter dem obersten General der Attacke, General Brussilow) vor die Wahl gestellt worden war, evakuiert zu werden oder selbst zu fliehen, war alles andere als von seinen Bewohnern verlassen, als die Russen eintrafen, und der Verteidigungsring geschlossen weil definitiv umschlossen war. Genau weiß man aber, daß 28.000 Zivilisten in der Stadt geblieben waren, die zuvor rund 45.000 Einwohner gehabt hatte. 

Und alle Eigenarten einer Garnisonsstadt aufwies. Von der Bedeutung von Uniformen für gesellschaftlichen Rang wie im Alltagsbild der Straßen angefangen, über Theater und Cafés gehend, bis zur recht hohen Zahl der Damen, die im sogenannten "leichten Gewerbe" tätig waren. Und von denen nicht wenige immer einen Blick für jenen Moment hatten, wo sie doch noch einen Offizier fürs Leben fanden, der verschuldet genug war, sodaß das Ersparte der Braut recht hilfreiche Starthilfe für ein Leben nach dem Tod der Ehre bedeuten konnte. Fast 500 waren der Verwaltung bekannt, hatten einen "Deckel." Die Zahl der Frauen, die sich eine Verbesserung ihrer Versorgungslage durch nicht ganz legal abgezweigte Konserven (meist zurecht) erhoffte, oder einfach Geld erarbeiten mußte, um das Kind zuhause zu versorgen, ist nur zu ahnen, und war vermutlich sehr hoch.

Von einer, die offiziell "Cabaret-Künstlerin" und Balletteuse war, ist sogar bekannt, daß sie zusammen mit ihrer Freundin mit ihrem Fliegerleutnant buchstäblich - es gab in der Festung eine kleine "Luftwaffe", die sogar die erste regelmäßige Luftpostlinie der Welt (Przemysl - Krakau) aufzog, und deren Piloten aufgrund so mancher Begünstigung, vor allem aber wegen des überwältigenden Ansehens, das sie genossen, bevorzugtes Objekt der Avancen von Damen waren, die durchaus schon mal ihre Fassung und mehr verloren - davongeflogen ist. Sie ist später noch einmal aufgetaucht, und zwar in einem russischen Offizierskasino, so wird's berichtet. Dann aber verliert sich ihre Spur. Am Bolschoi-Theater hatte ja nach 1917 sicher auch die künstlerische Ausrichtung (hin zum Utopismus von Stahlarbeitern, veredelt durch den Esprit von Züricher, Londoner und New Yorker Bohemiens) gewechselt.

Die strategische Bedeutung Przemysls inmitten einer Front, die aufgrund völlig verfehlter Gesamtplanung zusammengebrochen war, weil stures "Attackieren" überholter Schule eine Million Soldaten verheizt hatte (tot, verwundet oder vermißt, also ob tot, gefangen oder desertiert), wurde immer riesenhafter, je mehr sich ein Bild der Lage abzeichnete. Denn Przemysl lag auch an der Haupteisenbahnlinie, die von Lemberg her (dem zweitgrößten Bahnhof der Monarchie) Galizien von Nordost nach Südwest durchschnitt. Und über die die Russen Truppen und Nachschub fahren konnten, sobald sie durchgängig befahrbar war. Noch aber blockierte die Festung diese Linie! 

Und sie mußte sie weiterhin blockieren, weil sonst die südlicheren russischen Armeen die Offensiven gegen den Südwesten und darinnen Budapest beginnen konnten, das völlig ungeschützt lag, und die Habsburger Armeen von Süden her von jedem Nachschub abschneiden und einkesseln würde. Das wäre das Ende gewesen. Strategisch bedeutete aber Przemysl jetzt sogar noch eine strategische Bedrohung dieser russischen Armeen vom Rücken her, sobald die vorstoßen sollten, und band selbst zwei Armeen.

Das sind einige der Punkte einer Welt, die in Przemysl ihre Ordnungspunkte verlor, und die Alexander Watson in seinem erstaunlichen Buch "The Fortress" einen Ansatz wählen haben lassen, der dem VdZ erst ein wenig großspurig vorgekommen war. Und sich auch lange Seiten nicht so recht erfüllen sollte. Bis sich ein Faden nach dem anderen zum Bündel gesellte, sodaß der VdZ heute meint, daß durchaus etwas dran ist an dem Gedanken, daß hier und damals, hier in Przemysl und damals vom Oktober 1914 bis zum März 1915 das schreckliche Schicksal des gesamten sogenannten "Bloodlands" (siehe T. Snyder), der Region von Litauen bis zum Schwarzen Meer, mit seinen dutzenden Völkern und Minderheiten und Religionen und Interessen verschiedenster ausländischer Mächte, seinen Anfang nahm, und schon 1922 in New Yorker Zeitungen Artikel auftauchten, die von 6 Millionen Juden sprachen, die hier vor dem sicheren Ausrottungstod standen.  1922? Ja. 1922. Nicht 1942.

Hier in Przemysl entschied sich, so Watson, daß dieses Land im nun folgenden Jahrhundert Millionen und Abermillionen Tode erfahren würde. Und zwar weil Przemysl nach fünf Monaten Belagerung letztlich NICHT gehalten werden konnte. Weil es nach Przemysl keine Monarchie mehr geben würde, die alle diese unterschiedlichsten Strömungen, Ideologien, Völker, Sprachen (!), Religionen, Minderheiten ... übergreifen und in eine Ordnung stellen konnte, in der alle einander so irgendwie wenigstens, wenn schon nicht respektierten, so doch leben ließen. Allein Letzteres würden diese Menschen fortan nicht mehr erleben. Und sie alle würden oft noch seufzen und leise, heimlich zu ihren Liebsten und zu ihren Ahnen sagen: Hätte Przemysl nur gehalten!

Wird fortgesetzt.