Dieses Blog durchsuchen

Mittwoch, 22. September 2010

Keine richtigen Köpfe

Natürlich schuf sich Walther Rathenau, noch dazu als Jude, in der Zeit vor dem Ersten Weltkriege mehr als genug Feinde. Nicht nur, weil er als Millionär in seinen Büchern Ansichten vertrat, die als äußerst progressiv und "links-liberal", zersetzend in ihrer Wirkung eingestuft wurden. Sondern auch, weil er immer wieder darauf hinwies, daß aufgrund der in den dreißig Jahren nach Bismarck so hermetisch gewordenen Führungsschichte Deutschlands die wirklich guten Köpfe nicht mehr nach oben kämen. Das wirkliche Talent, beklagte er immer wieder, bleibt ungenützt. Und das verschafft Deutschland einen zunehmend größer werdenden Nachteil den übrigen europäischen Staaten gegenüber.

Wie zur Bestätigung klingen da Notizen des britischen Kriegsministers Lord Haldane nach einem Besuch in Berlin 1912, die Harry Graf Kessler in seiner wirklich lesenswerten Rathenau-Biographie zitiert. Und die nur bestätigten, was Deutschlands Außenpolitik längst bekundete: Deutschland war weit weniger zu fürchten, als England bisher angenommen hatte. Er, Lord Haldane, habe festgestellt, daß in Berlin das Chaos herrsche. Der Kaiser habe ihm dies gesagt, der Flottenkommandant Tirpitz etwas anderes, und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wieder etwas anderes. Und jeder habe über die anderen geklagt.

Außerdem aber habe er festgestellt, und gerade das habe ihn so beeindruckt, daß der Geist, der Preußen und Deutschland so groß gemacht habe, die hohe philosophische und ethische Kultur, die hinter allen großen deutschen Erfolgen stand, gerade in der Spitze nichts mehr gelte. Der Kaiser habe ihn, Lord Haldane, der von Beruf Philosoph sei und die Verwahrlosung der Gräber von Fichte und Hegel beklagt habe, geantwortet: "In meinem Reiche ist für Leute wie Fichte und Hegel kein Platz."



*220910*