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Donnerstag, 23. September 2010

Ganz nur im Höchsten

Welch' seltene Kunst, eine Kunst der Liebe, einen Menschen so zu beurteilen, ihm so zu begegnen, daß er selbst tatsächlich als Ganzes getroffen ist. Denn diese Kunst erlaubt kein Abspalten eines Menschen in diese oder jene Perioden, wo er hier gut, dort schlecht agiert, reagiert, lebt. Sie begreift den Menschen aus einer einzigen Mitte heraus, die zugleich seine Spitze ist.

Und diese Spitze ist die seiner wahren Berufung, wie sie jeder Mensch hat. Nur aus ihr heraus ist jemand begreifbar, weil nur in dieser einen und einzigen "Situation" ein Mensch ganz er selbst ist. Und zwar in seiner höchsten Möglichkeitserfüllung.

Deshalb darf ein Mensch nur aus dieser einen Aktualität heraus definiert werden.

Der Künstler erfährt es in besonderer Überraschtheit, denn er hat kein Archetyp, keine Vorlage für das, was er zu tun hat. Das heißt immer auch: für jene Situation, in der er ganz seine Möglichkeiten wirklichen kann. Das geht beim Schriftsteller bis zum Verfassen von bestimmten Texten, Genres etc., wo er etwas erfährt, wo etwas in ihm wirklich wird: Sein Höchstes, dem sein Bewußtsein hinterher läuft, das er nur staunend beobachtet.

Das findet zum Beispiel beim Schauspieler seine höchste Erfüllung dort, wo er so von sich frei ist, von einer festen Identität, daß er jede Rolle in seiner Vorstellungswelt so zu entfalten (und das heißt: ihr zu folgen) vermag, bis sie ganzer Lebenshorizont, höchste Erfüllung findet, seine Schauspielerphysis ganz bekleiden mag (und insofern wird er zur Kasperlefigur).

Im Alltag läßt es sich allerdings gleichfalls verorten, und nicht wenige erleben dieselbe Überraschung, wenn sie eines Tages mit einer Tätigkeit konfrontiert werden, die sie nicht nur beherrschen, ohne je damit konfrontiert zu werden, sondern die auch noch in ihnen etwas an Unmittelbarkeit freimacht, eben an Freiheit schafft, die sie noch nicht kannten.

So ist es zu verstehen, wenn, wie unlängst K. M. Gauß im Interview meinte, und wie Doderer schreibt, ein Schriftsteller von sich sagt, daß er nur im Schreiben ganz er selbst ist und sein kann. Dort erst und dort nur wird seine höchste Möglichkeit erfüllt und wirklich.

Und von dort her muß man ihn - und muß man jeden - dann sehen, und lieben: von seiner höchsten Wirklichung her. Dort ist er ganz. Überall anders leidet er Mangel, überall anders ist er nur eingeschränkt er selbst, und überall anders besteht deshalb immer die Gefahr, daß er um sich schlägt, weil er Halt sucht.

Der Liebende hält deshalb den anderen in seiner höchsten Möglichkeit verortet, sieht ihn immer in Bezug darauf, und ordnet was immer ihm am anderen begegnet in seiner jeweiligen hierarchischen Position ein. Er verwirft ihn nicht, weil er im Teile jenen Erwartungen nicht entspricht - und das ist der Kernpunkt - die von jenen als Erwartungsbild und -haltung geprägt werden, denen dieser eine Punkt ganze Erfüllung bedeutet, eben den Vorbildern weil Archetypenentsprechungen.

Er liebt den anderen dann nicht als "ja, hier schon - ABER ..." Er liebt den anderen, WEIL er NUR dort, und nur dort ganz sein kann. Das braucht eine bestimmte Situation, weil es Leben nur in bestimmten Situationen gibt, nie außerhalb einer Bestimmtheit und einem mit Bedeutung zu erfüllenden Beziehungsgeflecht. Und jede (in diesem Sinn) mindere Position ist nur eine abgeschmälerte Wirklichung des Geliebten, in der sein Glanz noch nicht die Fülle finden kann.

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Das ist dann jener Punkt, an dem Etwas überhaupt erst IST: Sein Ganzes, das wie beim Photographieren zerfällt, "körnig" wird, wenn man die Aufnahme zu nahe sieht, so daß der Gesamthorizont verloren geht. Diese Liebe hat ihre Verankerung außerhalb der Zeit, außerhalb eines früher oder später - sie hat sie im Geiste.

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Der Neid aberkennt dem anderen genau dieses Höchste. Der Haß sucht dieses Höchste zu zerstören, den Träger, oder indem er den anderen aus seinem (angemessenen) Sinnhorizont herauslöst. Die Gier sucht das Höchste eines anderen für sich selbst, unangemessen und damit ungerecht.

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Das Höchste des Menschen - und in dieser Hinsicht ist der Künstler nur ein (nur natürliches! immanentes!) An-sich des allen auf eine Weise Möglichen - liegt in der Verbindung von Transzendenz und Immanenz. In dieser Illuminatio, in dieser Verbindung bricht etwas ein, das (unmachbar) in seiner Verwirklichung die Gestalt des Prophetischen hat. Der Künstler IST damit Prophet, Wahr-Sager, vollkommenstes Abbild Jesu (der Wirklichung des Geschöpflichen in allen Dimensionen, der Schöpfer selbst).

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Man kann überlegen, ob nicht die entscheidenden Traumata des Menschen (Doderer nennt es: das, was einem dann ein Leben lang herunterrinnt, weil es einem in der Kindheit über den Kopf gestülpt wurde) genau das Zertreten dieses Höchsten - denn hierin erst konfrontiert es sich, wie die Umwelt damit: mit einem selbst, weil im Höchsten eben - betrifft.

In einem Gedanken, den man vertrauensvoll äußert, und den der andere (noch autoritativ höhergestellt, Vater, Mutter, Pfarrer, Lehrer ...) - neidvoll ob des Nichtverstehens, ob des sich abzeichnenden notwendigen Neuordnens der Beziehung zueinander - niedertritt.

Ich habe manchmal den Eindruck, daß jeder Mensch solche Verwüstungen erlebt hat, und daß diese Wiedererrichtung das Kernproblem der Lebenswirklichung des Menschen ist.

So, wie ich als Vater bei manchen meiner Kinder solche Momente (durch mich, durch andere Autoritätspersonen) erlebte, von denen ich mir einbilde, daß sie es waren, die die Entwicklung des Kindes maßgeblich prägten - fördern, wie behindernd. Aus Gedankenlosigkeit, aus Müdigkeit und damit mangelnder Gefaßtheit, aus Neid oder Haß gar. Oft winzigste Momente - wie dieser unendlich kleine Augenblick, wo ein Sohn, damals, er war fünf Jahre alt, ein Bewegungstalent sondergleichen, zum ersten Mal mit Schlittschuhen aufs Eis tritt, und sofort perfekt, vollkommen fährt! Er will, daß ich ihm die Hand reiche. Ein falsches, ungeduldiges Wort von mir, aus ganz anders motivierter, gereizter Grundstimmung ... er wankt, und ... kann nicht mehr fahren, muß es nun mühsam, unter Ordnung zahlloser innerer Gedanken- und Bewußtseinsprozesse, "lernen".


 *230910*