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Freitag, 17. September 2010

Was den Schauspieler bildet

"Bei dem besten Willen und schönsten Ideen einzelner Männer fehlt es einer kleinen Stadt an einem Publicum, welches die großen Verhältnisse des Lebens aus Erfahrung kennt und einen anschaulichen Begriff hätte von dem Wesen und der Art außerordentlicher Menschen, wie besonders der Tragiker sie darstellen soll. 

Die Sitten ihrer Bewohner sind ängstlich abgemessen und werden vielmehr bizarr in ihren Äußerungen sein, als daß sie durch die Welt und durch bedeutendes Wirken auf dieselben eine lebendige Gestalt und eine gewisse freie Beweglichkeit erlangt hätten. Nach welchen Mustern kann also der Schauspieler dort seine Darstellungen bilden? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er in der Regel ebenso manieriert und kleinstädtisch sein wird als es seine Umgebung ist."

Josef Schreyvogel über die Auftritte von Weimarer Schauspielern in Wien Anfang des 19. Jahrhunderts und über Zusammenhänge von Schauspiel(er) und Realität eines Ortes.

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Das Schauspiel einer Zeit ist das wirkliche Spiegelbild der menschlichen Haltungen jenes Ortes, an dem es stattfindet. Das kann gar nicht anders sein, und das muß auch so sein. Hier kann "Internationalisierung" also schwersten Schaden anrichten, und einer der beklagenswertesten Umstände ist, daß die internationale Fernsehunkultur auch die Urteilskraft der Menschen so schwer beschädigt hat.

Der Schauspieler muß zwar nicht aus dem Ort kommen, wo er spielt. Er muß aber die Menschen dieses Ortes in sich tragen, um Identifikation zu ermöglichen: das allgemein Menschliche muß in jener Form erkennbar sein, die es in dieser Stadt eben angenommen hat. Das kann nicht einfach angezogen werden wie ein Rock, so wird's nur zur symbolistischen Stilisierung, bestenfalls, wenn auch ein so oft durch das tägliche Theater im Wohnzimmer, auf fünfzig mal achtzig Zentimeter, verbildetes Publikum gar nicht mehr mehr zu verlangen scheint - nein, das muß gelebt, erkannt, im Besitz sein.


*170910*