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Donnerstag, 30. September 2010

Zeitdiebstahl

Wir haben alle Vorgänge beschleunigt. Aber hat der Umgang mit der Zeit, in dem wir sie mit so viel als möglich vollstopfen, überhaupt einen Sinn? Abgesehen davon, daß ich behaupte, daß zwar bestimmte Vorgänge beschleunigt haben, aber dieser Zugewinn andere zusätzliche verlangt hat, so daß die "Zeitsumme", auf die Menschheit gerechnet, mit jeder technischen Errungenschaft steigt, nicht fällt. Daß die Beschleunigung des Westens, um es ganz konkret zu machen, nur möglich war, weil weltweit gesehen Menschen genug vorhanden waren, die die uns zuarbeitende Zeit - gegen Geld, man nennt das dann Industrialisierung, oder Wohlstandszuwachs - der wir diesen "Gewinn" verdanken, den "Zeitverschnitt" (das Handwerk kennt den Begriff des "Verschnitts", also jenes Materialteils,  der wegfällt, wenn man aus Rohmaterial das eigentliche Werkstück herausarbeitet; die Sohle aus dem Lederfleck; die Konsole aus dem Brett, etc.) sozusagen, übernahmen.

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Aber das Wesentliche am Leben und am Menschen, wir selbst als Erkennende, als Glücks- und Erlebenssubjekte - es ist nicht beschleunigbar! Und zwar um keine Minute!

Ja, wir erzeugen sogar Arbeitslosigkeit - ungebrauchte Menschen, die wir in Sozialnetzen auffangen, die wir von dem Geld finanzieren (sollten), das jene erwirtschaften, die die menschensparende Technik bedienen. Weil aber die notwendige Zeitsumme in Wahrheit steigt, denn jede Technik (da hat G. F. Jünger völlig recht!) braucht mehr Energie, als sie liefert, können wir solche Sozialnetze nur durch Schulden finanzieren. Es sei denn, wir riskieren nicht einen allgemeinen Wohlstandsrückgang. Paradox?

Eine der faszinierendsten Überlegungen, die dieser groteske und deshalb so für unser Heute typische Technizist Walther Rathenau angestellt hat, ist jene, was eine Nivellierung des Wohlstands, als Enteignung der Oberen, mit Verteilung nach unten - bringen würde. Seine Berechnungen (und übrigens nicht nur er hat das berechnet) ergaben, daß das Niveau ALLER deutlich fallen würde. Der Kommunismus hat genau das exakt bewiesen. Rathenau wußte, daß die Rechnung - Allgemeinwohl - nur aufging, wenn er eine enorme Steigerung der Leistung der gesamten Volkswirtschaft als Frucht dieser Kollektivierung (durch höhere persönliche Motivation) in Aussicht nahm.

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Was aber ist wirklich "Zeitdiebstahl"? Etwas erdulden zu müssen? Erdulden zu müssen, wenn andere versuchen, unsere Zeit vollzustopfen? Mit all dem Plunder, den wir "effektiv" produzieren, aber gar nicht verarbeiten können, der uns deshalb nicht ein Gramm mehr Lebensfülle schenkt?


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In der chinesischen Stadt Xian hat die Anwältin Chen Xiaomei ein Kino und einen Filmverleih wegen Zeitdiebstahls verklagt: Vor dem Hauptfilm waren zwanzig Minuten Werbung gezeigt worden. Da sie nicht darauf hingewiesen worden sei, dass ein solch extrem ausladendes Reklamepräludium zu erwarten wäre, forderte sie nun ihr Eintrittsgeld zurück (35 Yuan, etwa 4 Euro).

Darüber hinaus will Xiaomei 35 Yuan als Kompensation für den erlittenen seelischen Schaden sowie eine schriftliche Entschuldigung haben. Bei dem Film, den die Frau Anwältin sehen wollte, handelte es sich um den chinesischen Kino-Sommerhit “Nachbeben”, ein Familiendrama über eine durch ein Erdbeben zerrissene Familie. Und das Beste: Das Gericht in Xian hat die Klage akzeptiert. (Autor: Peter Glaser)




*300910*