Wir wollen es nur anreißen, aber das soll denn doch geschehen. Denn da geistert zu viel herum, wenn es um den Begriff des "Volkes" geht. Und es sind auch sehr aktuelle Anlässe, die dazu bewegen, man denke an die Schotten, die Katalanen, die Szekler in Siebenbürgern, die Ukrainer ... überall hört man es - VOLK.
Und in einem der jüngsten Artikel der Seite "Freies Österreich" steht dann gar der (Herder zugeschriebene) Satz, daß ein "Volk die größte natürlich politische Gemeinschaft" sei.
Herrschaften, ehe wir uns ganz ins Schwammige begeben, sollte also doch einmal darüber nachgedacht werden, ob dem Menschen, der IN SEINER NATUR ein Kulturwesen ist, also nicht "halt auch" eine Kultur aufbauen kann, sondern dessen Sein eine Kultur bedeutet - oder er ist gar nicht, ob es also ein "Natürlichsein" des Menschen gibt, OHNE daß wir zugleich von seiner Organisation, seiner Kultur sprechen.
Weil Menschsein ein Zueinander von Gestalten und Formen ist, und diese Formen und Gestalten sind in dem Maß menschlich, also natürlich (natus - geboren, bestimmt dazu), als sie geistig werden. So erst ist der zweite menschliche Pol zur Entfaltung gebracht, in welchem der Mensch oben inden Himmel ragt, um doch unten fest am Boden zu stehen. Beides fällt "seltsamerweise" zusammen: Je geistiger ein Mensch ist, desto bodenschwerer wird er. Die ungeistigsten Völker sind - oh, man hört die Entrüstungsstürme, die Beschimpfungen ... - jene, die es nicht einmal zur Seßhaftigkeit schaffen. Aber sie sind nicht die "natürlichsten". Sie sind die, in denen das Menschsein am unfreisten und deshalb am unentfaltetsten ist.
Wo das Menschsein sich nicht in bestimmte Organisationsform bringt, kann man deshalb auch nicht von "natürlichem Volk" sprechen. Mit "Blut" oder "Abstammung" zu kommen ist schon deshalb nur noch abstrus, weil in der Menschheitsgeschichte von "Blutsreinheit" bestenfalls auf isolierten Inseln gesprochen werden kann, unabhängig davon, von wo her die Bewohner kamen. Und eine solche Situation der Isoliertheit (es sei etwa an die phantastisch hellen Arbeiten der österr. Schule der Ethnologie um Paul Schebesta oder Wilhelm Schmidt über die Pygmäen erinnert) führt nie zu besonderem Wachstum, sonder im Gegenteil, zu Kleinheit und Beschränkung. Selbst im Tierreich, übrigens.
Die Germanen etwa waren großwüchsig. Die Analogie paßt. Denn sie waren (und ... sind ...) bekannt dafür, daß sie jeden und alles integriert haben, was dazu willig war. Die Völkerwanderungszüge waren regelrechte Auffangbecken bestimmter Charaktere aus allen Völkern, die am Weg lagen. Die Kimbern und Teutonen etwa begannen ihre Züge aus Dänemark ums Jahr 100 v. Chr. mit kaum 30.000 Menschen, um, in Italien angekommen, 120.000 und mehr zu sein. Mit dabei, sich unterwegs anschließend, waren Germanen verschiedenster Stämme, Slawen, Kelten, Illyrer ... welche Gebiete immer sie eben durchwandert hatten. Bei diesem Wegzug, wie am Hinzug im Rahmen der indogermanischen Völkerwanderungen einige Jahrhunderte und Jahrtausende davor. Die reine Blutsverwandtschaft zwischen Germanen, "Ariern", und (jetzt werden wir ganz provokant) Zigeunern (unterschiedlichster Stämme, und da gibt es wahrlich viele - Roma, Sinti, Czigany, etc. etc.) ist nach Meinung des VdZ sogar äußerst hoch. Der Unterschied liegt nicht im Blut. Er liegt in der Kultur. Und hier bestehen erst tatsächliche Unvereinbarkeiten, historisch gewachsen, und sehr und vielfach begründet.
Denn zur Herausbildung eines Volkscharakters gehört zweifellos auch die durch die Zeit geprägte Charakteristik. Da kann es dann schon sein, daß die Bewohner des Alpen-Karpatenraumes mehr "Völkisches" gemeinsam haben, als die Slawen "Tschechen" mit den Slawen Wolhynierns. Lassen wir uns doch nicht von den seltsamen, und in Wahrheit so gar nicht begründbaren, heute aber auch oft so mißverstandenen Romantizismen des 19. Jhds. nicht den Kopf verdrehen! Mißverstanden auch oft schon aus sehr persönlichen Motiven, dazu ließe sich so viel noch sagen ...
Was ist also ein Volk? Sind es die Lavanttaler, die ihre Landschaft als die schönste der Erde bezeichnen, und am liebsten mit niemandem sonst etwas zu tun haben möchten? Die Tiroler, denen eine ungemein vielsagende, archaische Wendung nachgesagt wird, die heute meist überhaupt nicht mehr verstanden wird, aber für jedes "Volk" der Erde kennzeichnend war (in beinahe jeder Sprache ist die Bezeichnung für ein Mitglied des "Volkes" auch die Bezeichnung für "Mensch"): "Bischd a Tiroler, bischd a Mensch, bischd ka Tiroler, bischd ka Mensch!" Die Lausitzer Sorben, die als slawisches Völkchen seit vielen Jahrhunderten fester Bestandteil sächsisch-schlesischer Kultur sind? Die ... Kurden, die auf drei Staaten aufgeteilt sind? Die Türken, die in Asien mehr "Turkmanen" haben, als in der eigentlichen Türkei? Und wo fängt man da an, wo hört man da auf? Sind die Sachsen, die sich in Ungarn niedergelassen haben, jemals Österreicher gewesen? (Nein!) Sind die Österreicher ein Volk, je gewesen, mit dieser Unzahl von Volkschaften - pardon, Völkern? - in seiner Mitte?
Der Name Volk macht erst ab dem Moment Sinn, wo er sich in kulturelle Form bringt. Und das kann ein Volk - nur aus sich selbst heraus. Denn dazu braucht es einen Willen, das ist das eine. Aber dann beginnt die Serie der Abstufungen. Bis zum höchsten Punkt, ab dem von Organismus zu sprechen erst wirklich Sinn macht. Der in der Analogie "Person" frei und selbständig existieren kann und vor allem will. Der aus sich heraus (!) existieren will, und dafür und darein sind dann alle seine Einzelexistenzen, die Bevölkerung mit allem Mann und Maus, verhängt, und sei es um den Preis des Blutes, was sogar als Kriterium dafür gelten kann: Wo sich eine Anzahl Menschen, die zu einem organischen Ganzen zusammengefunden haben, als STAAT ausruft.
Und siehe da, nun haben wir es plötzlich, das Volk! Das ein Staatsvolk ist. Innerhalb dessen sich auch die vielen Abstufungen - Dorf XY, Lavanttaler, Kärntner, Österreicher - wiederfinden. Wenn man von Familie, Sippe, Stamm und Staat spricht, so geschieht dies ja automatisch mit Bezug auf deren historisch nachvollziehbare äußere Form! Da war der Vater, da war der Dorfhäuptling, da war der Landesvogt, da war der Stammesherzog, da war der König. Das waren keine simplen "Zweckgemeinschaften", das waren kulturelle Höherentwicklungen! Wo sich die je höhere Form ganz konkret dann auch bis ins Dorf, bis in die Familie hinein auswirkte. Nicht nur über die Identität, sondern auch über Rechte, Pflichten, Aufgaben und Verantwortungen. Es waren die ersten Voraussetzungen für Arbeitsteilung, für Verwaltung, für Verantwortungen.
Das primitive Indianervolk, das irgendwo am Rio Parana noch heute seine Existenz fristet, ist nicht weniger natürlich, als der Staat Argentinien, der seinen Willen zum Staat durch ein diesen Willen tragenden Staatsvolk aufrecht hält, mit allen Konsequenzen. Und so zum voll- und gleichberechtigten Subjekt des Völkerrechts wird. Aus dem Umstand, ein "Volk" zu sein, läßt sich noch sehr wenig an konkreter politischer Konsequenz ableiten.
Ein "Volk" von Kurden, das noch dazu in sich total zerstritten ist (so, wie es doch die Germanen auch waren), als "natürliches Volk" in dem Sinn zu bezeichnen, als ließen sich daraus Rechte und Pflichten - schon gar im Rahmen des Völkerrechts - ableiten, ist einfach nicht haltbar. Volk hat sich immer auf einen Kulturraum bezogen. Niemand würde die Kroaten des Burgenlands im Osten Österreichs als "nicht zum österreichischen Volk" gehörig bezeichnen. Sie sind es, weil sie den Staatswillen, den Willen zum Staatsvolk mittragen und in jede Generation neu hineingebären. Sie sind "natürliches Staatsvolk".
Keineswegs auch reicht es sich als "Staat" zu bezeichnen, wenn man die Wesenseigenschaften eines Staates nicht erfüllen kann, oder will. Das ist direkt an die Adresse der Ukraine zu sagen, deren Staats"wünschen" bei manchen vorhanden sein mag. Wo aber wirklich hinterfragt werden kann und sogar muß, ob es einen geeinten Volkswillen (bei so vielen Völkern, die sich dort finden ...) zum Staat, mit allen Konsequenzen, überhaupt innerhabl dieses Territoriums gibt. Staat sein wollen, die Lasten aber anderen aufladen (und so sieht der VdZ die Anschmiegerei der Ukraine an den Westen) ist da zu wenig, und läßt eher einen Mißbrauch des Staatsbegriffs durch einige Interesssensgruppen vermuten. Man frage doch einen normalen Bürger sogar der Westukraine, ob er "seinem Staat" vertraut?! Das Niveau der Korruption, das in der Ukraine kaum noch zu überbieten scheint, wie man allenthalben hört, liest oder erzählt bekommt, erzählt auch, ob ein Volkswille zu (diesem) Staat überhaupt besteht. (Übrigens war auch die Korruption in Nazi-Deutschland äußerst verbreitet, man übersieht das gerne.)
Was mit den einzelnen Kurden, so vielen Familien, Dörfern, Dorfgemeinschaften etc. etc. passiert, die ja verschiedentlich als Nachfahren der ehedemstigen Hethiter angesehen werden - ein "Volk", das zerfiel, weil sein Staatswille zu schwach im Konzert der umgebenden Völker (hier: der Assyrer) war - ist gewiß nicht in Ordnung, und ja, auch Kriegsverbrechen läßt sich zu vielem dabei sagen. Mit einer schwerwiegenden Einschränkung: Krieg ist eine Erscheinung zwischen Staaten. Diese Grundtatsache, auf der Völkerrecht überhaupt aufruht, wird seit 100 Jahren recht konsequent im Namen - ja, so könnte man es bezeichnen: völkerrechtswidriger Universalismen - verwaschen. Gegen die Kurden wird kein Krieg geführt, sie sind kein Staat. Gegen sie findet "höchstens" ein Vernichtungsfeldzug statt. Möglicherweise, freilich, um einen Staatswillen zu unterdrücken. Das wagt der VdZ nicht zu beurteilen. Die Existenz einer PKK ist ihm aber zu wenig, um das anzunehmen.
Das alles sollte dazu anregen, mit dem Begriff des "Volkes" etwas vorsichtiger umzugehen. Aus dem sich politisch gesehen rein gar nichts ableiten läßt, wenn es nicht kulturell und damit politisch konnotiert ist. Erst daraus, und nicht mit schwammigen romantizistischen Begriffen, läßt sich politische Handlungsnotwendigkeit und erst dadurch sogar auch manches Unrecht erkennen. Sonst kommt man leicht in Verdacht, genau der proklamierten Sache - Freiheit - NICHT zu dienen.
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