Einen sehr berührenden, vor allem aber interessanten Artikel fand ein Leser in der Zeit vor einigen Wochen. Darin wird über Kambodscha unter und nach Pol Pot gehandelt. Über dessen Wahn, eine neue Gesellschaft zu errichten. In welchen ideologischen Wahn sich ganz gewiß und wie immer sehr viele ganz persönliche Motive mischten, bei Pol Pot, und erst recht bei seinen vielen Helfern und Untergebenen, ja es sind eigentlich immer zuerst die persönlichen Motive, für die dann ein Gedankengebäude instrumentalisiert, konstruiert wird: die Ideologie, der große Bruder - Angkar.
Aber darum geht es nicht hier. Sondern darum, daß sich sein Regime ganz gezielt in jede soziale Zelle einmischte, vor allem iin die Familie. Die Menschen sollten völlig entwurzelt werden. Nur eine Einwurzelung sollte es geben: die in die politisch-soziale Organisation, ins Angkar. Das für alle dachte, das plante, das leitete, das anordnete.
Um das zu erreichen, mußte diese Organisation willkürlich vorgehen, unberechenbar bleiben. So sollte bewirkt werden, daß die Menschen aufhörten, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, weil sie jederzeit mit Eingriffen der Staatsmacht rechnen mußten, die jedes persönliche Vorhaben, Wollen, Planen zunichte machte. Alles war entweder verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt oder befohlen war, oder gleich in staatlicher Hand. Arbeit, die meist zur reinen und anlaßbezogenen Sklavenarbeit degredierte, war ausschließlich auf gesellschaftlich verordnete Zwecke beschränkt, jeder Individualismus, jede persönliche Lebenserfüllung, Bildung die über staatliche Notwendigkeiten hinausging, sogar die Essenszuteilung - alles Persönliche wurde als dem Gesamtzweck schädlich unterbunden.
Die Familie war es dabei zu aller erst und vor allem, die den politischen Zielen im Wege stand. Wie es die Grünen und Roten der Welt bis heute und überall machen. Also wurden sie auch willkürlich auseinandergerissen, Eheleute, Verwandte, Geschwister oder auch nur Freundschaften durch Versetzungen getrennt, ohne daß einer vom anderen wußte, wo der nun war. Die dadurch entstehende Haltlosigkeit, die Intitiativlosigkeit sollte die Anhänglichkeit an das Regime verstärken. Und über allem - die Todesangst, denn zu töten war den Kadern und Soldaten praktisch willkürlich möglich, ja das Aufrechthalten der Furcht war deren Aufgabe.
Deshalb wurden auch private Ehen verboten, und ihre Schließung und Verwaltung - als zweckhafte Institution, um ausreichend Nachwuchs zu produzieren - durch die Staatshand übernommen. Durch willkürliche Anordnung wurden die jungen Männer und Frauen verheiratet, und mußten unter Überwachung die Ehe vollziehen, um sicherzustellen, daß sie Kinder bekamen. Die dann wenige Tage und Wochen nach der Geburt in staatliche Erziehungseinrichtungen kamen, oder - oft auch einfach nicht, denn der große Plan hatte auch so seine Denklücken oder simple Durchführungsschwierigkeiten. Hunderttausende "Familien" wurden also zwangsweise "begründet".
Aber nun stellte sich etwas Interessantes heraus. Denn selbst, wenn die Zwangsverheirateten, die auch gleich zur Zwangsbegattung gezwungen wurden, sich oft nicht einmal kannten, oder nicht mochten, waren es genau diese Familien, die den Menschen ... Halt gaben, ihnen Kraft zum Überleben gab! Denn mit einem mal hatte ihr Leben einen persönlichen Sinn, den genau das Regime ja ausrotten wollte.
In diesen Familien entstand plötzlich für die Menschen eine Möglichkeit, eine sinnvolle Parallelwelt zu errichten, die den Wahnsinn, die Unvernunft, die den Alltag sonst erfüllte, ertragen ließ. Die durchhalten ließ, weil plötzlich Kinder da waren, ein Ehepartner, der zu einem hielt, auch wenn es niemand öffentlich zeigen durfte. Und es entstand vor allem die Möglichkeit, alte religiöse Riten und Bräuche - im Geheimen - aufrechtzuhalten, weiterzugeben, die die Menschen an ein Transzendentes anbanden, die das Leben aus der brutalen Verzweckung des Regimes herausrissen, und ihrem Leben eine Würde gab, die die offizielle Seite nicht mehr zerstören konnte. Denn nun ging es um etwas, und nun wollten die Menschen auch den Segen der Götter, mit denen sie in Frieden leben wollten.
In diesen Zwangsfamilien und -ehen, die der ultimative Todesstoß der bürgerlichen, traditionellen Familie sein sollten, und die viele nur aus Resignation eingegangen waren, bis soweiso keiner mehr frug, schuf das Regime also sogar sein Gegenmittel. Dort, in einer Sphäre des Geheimen, Privaten, Persönlichen, überlebte menschliche Würde, dort überlebte die Religion, die unabtrennbarer, ja fundierender Teil menschlicher Würde ist. Dort entstanden und überlebten neben familiären auch soziale Beziehungen. Auch inmitten einer aberwitzigen Gesamtsituation, und immer in der Angst, entdeckt zu werden, denn das hieß meist Tod. Je nach Schätzungen, kamen in Kambodscha in dieser Schreckenszeit unter Pol Pot bis zu 2 Millionen Menschen um, was einem Viertel der Gesamtbevölkerung entspricht.
Nun hatten die Menschen einen eigentlichen Ort, an dem und vor allem für den sie leben konnten. Selbst wenn sie wieder getrennt wurden - die betroffenen Menschen hatten wieder einen Sinn gefunden, der in allem Wahnsinn aufrechthielt, ja auf den hin sich die Menschen überschritten, und das zahllose Leid ertrugen, weil es sie nicht in ihrem Sinn zerstören konnte. Da war ein Kind, für das die Frau zu sorgen hatte. Da war eine Frau, auf die der Mann als Mitte seines Lebens bezogen war. Da war für alle eine Familie, in der man eigentlich lebte und verankert war. Ja darauf bezogen hatte auch die Ökonomie, die Arbeit, das Schaffen - Sinn.
Die meisten dieser Ehen überlebten deshalb auch, als das Regime fiel. Als dann die internationalen Juristen kamen, und alles zu Unrecht erklärten, konnten viele damit gar nichts anfangen. Ja plötzlich stellte sich Unbehagen und Scham ein. Was die Menschen empfanden sogar als zweiten Raub empfanden - nun wollte man ihnen noch das entreißen, das das Leben doch ausgemacht und aufrechtgehalten hatte! Plötzlich ging es um Liebe und Leidenschaft, plötzlich sollte die erzwungene Ehe, auf der sie ihr Leben aufgebaut hatten, nicht gültig sein. Manche feierten seither die Eheschließung in den alten Zeremonien nach. Aber nur wenige trennten sich.
Und mit ihnen hat - die Religion überlebt, in den alten Sitten und Bräuche, nach denen die Menschen dort heute wieder öffentlich leben dürfen. Auf ihnen baut das heutige Kambodscha auf, das trotz der furchbaren Jahre, die so viele Menschen zu rohen Bestien gemacht hatten, nicht zur Hölle verdammt ist. Die Hälfte der heute 25 Mio Einwohner des Landes sind unter 25 Jahre alt. Und viele von ihnen haben menschlich genau das erlebt, was das Regime auf jeden Fall verhindern wollte, und genau damit stark gemacht hatte: Die menschenbildende Kraft der Familie.
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