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Freitag, 4. Juni 2021

Ausgespanntheiten und andere Spannungen (2)

Es ging beiden nur ums Auflösen ontischer Strukturen. Um eine neue Welt zu schaffen, die ihrer Grammatik entsprach.Mit Generaloberst Ludwig Beck haben sich ja auch die meisten deutschen Generale schon aus taktischen Gründen gegen einen Krieg ausgesprochen, weil sie vorhersahen, und darin völlig richtig lagen, daß ein Krieg nur in eine deutsche Katastrophe münden konnte: Das Heer war zu diesem Zeitpunkt noch hoffnungslos unter-rüstet. Sodaß die aus der Geographie folgende, einzig mögliche strategische Ausrichtung, die eine Doppelfront aus Ost und West einkalkulieren mußte. Wenn nicht noch Nord und Süd. Österreich zum Beispiel war als Kaiserreich von Deutschland Gegner und Konkurrent gesehen worden, und war von 1933 bis 1938 erklärter Gegner des Nationalsozialismus. So viel Feind, bei einer relativ gesehen geringen Landtiefe. (Wir haben vor etlichen Jahren bereits einmal ausführlich über die verzwickte strategische Lage eines Gesamt- bzw. Großdeutschland am Kontinent gehandelt, der Leser möge nachschlagen.) 

Über Beck hatte sich die Unzufriedenheit der deutschen Generale schon 1938 ausgedrückt. Und erst recht, als Hitlers "raumgreifende Visionen" einerseits (Pläne waren es ja nicht, vielmehr Phantasien), und seine Bereitschaft zum Hazard anderseits in ihrer gesamten Dimension bekannt wurden.

Endgültig erkennbar war das am Einmarsch in der Tschechoslowakei geworden, der militärisch gesehen ein (nach dem Saarland und nach der Besetzung Österreichs) nächstes Vabanquespiel - Alles oder nichts! - war: Die Tschechen hätten bei hinlänglicher Entschlossenheit der deutschen Armee so gleichwertigen Widerstand entgegensetzen können, daß in den Augen von Militärstrategen ein Erfolg Deutschlands höchst fraglich, ja eine ausgesprochene Blamage höchst wahrscheinlich war. 

QR Video Generale
Bis heute ist nicht klar, warum es im März 1939 seitens der Tschechoslowakei zu solchem Widerstand nicht gekommen ist. Weil man wie überall in Europa auch in der Tschechei mit dem Faschismus liebäugelte, ihn also gar nicht als Bedrohung sah? Überall war doch nach 1918 die Sehnsucht nach einer nachhaltigen gesellschaftlichen Ordnung sehr groß gewesen, die aber nur durch starke exekutive Macht des Staates herzustellen war. Die intern durchzusetzen die Demokratien Europas aber nicht in der Lage waren.

Halder wird das schon alles gewußt haben. Aber es hat ihm offenbar weniger Rolle gespielt. Wenn der Führer Krieg wollte, würde er ihn haben können. Zu sehr war Halder aber auch mit dem Revolutionären Hitlers einverstanden. Und deshalb hat Halder gar nicht, wie immer angenommen wird, nur den Kriegsfürsten gespielt, der den Herrschenden den Buckel machte. Sondern Halder war selbst ein Grenzüberschreiter, der sich nur gewaltig in seinen Einflußmöglichkeiten getäuscht hatte. Denn er konnte, einmal Heereschef, keineswegs die Pläne Hitlers beeinflussen. Der zog durch, und wenn Halder ihm zu wenig dienstbar war, würde er gehen müssen. So war es dann ja auch. 

Dieses Überschreiten der persönlichen, in der offiziellen "Dienstbeschreibung" ausgedrückten Stellung und Aufgabe in einer Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt bereits Grundkonzept des Denkens geworden. Das Revolutionäre bestand darin, daß nicht mehr der Ort, in den man hineingeboren wird, diesen Ort bestimmte, sondern daß sich die ehrgeizigen Pläne der Staatsführungen der europäischen Großstaaten nur noch bei einem reibungslosen Funktionieren der Apparate erreichen ließen. Sie spielten alle auf ihre Weise Hazard, fuhren ohne Reserven und Knautschzonen, und konnten deshalb keine Fehlschläge verdauen. Ging ein Teilziel schief, war das Ganze gefährdet. 

Also wurden auch die Völker zu Mechanismen umgebaut, die auf ein politisch vorgegebenes Ziel ausgerichtet waren. Speziell nach dem Ersten Weltkrieg, als sich ganz Europa den Kopf darüber zerbrach, wie das Leben und die Ordnungen jetzt aussehen sollten, und die Beziehungen der Völker nur durch hohe Gewaltbereitschaft im Rahmen des Gesetzes des Stärkeren so etwas wie "Frieden" ergaben. 

Als sich 1914 bis 1918 die traditionellen Gesellschaftsordnungen auflösten, weil Krieg seinem Wesen nach den Stärkeren, Funktionierenderen bevorzugt und als gesellschaftlichen Typus fördert, übertrug sich dieses Funktionsprinzip endgültig auf die Politik. Eine Erb-Ordnung gab es nicht mehr, also mußten neue Ordnungs- und Hierarchieprinzipien her. Und die meinte man in der Technik, im Funktionieren, in einer isoliert gesehenen "Begabung" (im Rahmen einer bestimmten Funktionserfüllung) gesehen. Diesem Prinzip gemäß wurden aber nun die traditionellen Institutionen nach und nach aufgelöst. Und überall die Integrität, Autorität und Unangreifbarkeit durchlöchert bis aufgelöst. 

Das Ganze gab dem Einzelnen seinen Ort? Gut, dann bestimmen wir von oben her, wer was werden kann und soll. Dann beuten wir von oben her die Menschen aus, indem wir sie "ihren Talenten nach" beschäftigen. Oder dafür sorgen, daß sie so beschäftigt werden. So gelangten auch in die Generalsränge zunehmend Emporkömmlinge weil Soldaten aus unteren gesellschaftlichen Schichten. Die der Politik "nützlicher" waren, weil ihr Tun eben nicht mehr von einem generellen Ethos getragen war, sondern nur noch durch die Erfordernisse der Funktion bestimmt waren. Das war es, was den Krieg ent-kultivierte. Denn der ritterliche Ethos im Kampf war, wie spätestens die ersten Monate 1914 gezeigt hatten, ein tödlicher Nachteil. 

Im Gegner stand nun jemand gegenüber, der fortan als ganzes Volk niederzuwerfen war, nicht nur indem man die Kriegsstände überwand. Weil aus jedem ein Kämpfer, ein Soldat und ein General werden konnte. Damit kamen aber auch die Spannungen zwischen den Völkern zu keinem Ende mehr. Gleichzeitig stand jeder Mensch unter Dauerspannung, weil er möglicherweise "zu allem fähig" war, und wenn nicht jetzt, dann vielleicht morgen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Keine gesellschaftliche Schichte trug nun noch das Handwerk des Zwischenstaatlichen, des Friedens, oder des Krieges als Soldaten und Generale. Die kraft Tradition und Herkunftsfamilie eine soldatische Vorprägung mitbrachten, die nicht nur die bloße Kampfeseffizienz wertete, sondern den Ethos des Kampfes in eine tiefe und breite persönlich-sittliche Bildung eingebettet trug. Sodaß der Kampf am Schlachtfeld nicht eskalierte, sondern kultiviert und gehegt wurde, und in Summe viel weniger Opfer kostete. Bei gleichem staatspolitischem Ergebnis. 

Das zeigte sich besonders bei den Staaten, für die 1918 eine Revolution war, die die bestehende Gesellschaftsordnung zerstörte und eine neue Ordnung brauchte. Und das waren vor allem Deutschland und Italien, und Spanien. Überall, und zwar in ganz Europa, wurde deshalb auch der Faschismus immer mehr bevorzugt. Weil er die einzige Ordnungsidee war, die den Schrecken des Kommunismus abzuwehren versprach. 

Aber der Faschismus liegt im selben Trend der Auflösung vorhandener Ordnung zugunsten einer Leistungshierarchie. Und das war vor allem eine Idee derjenigen, die "nach oben" kommen wollten. Der jüngsten Söhne. Der Verlierer. Der (nach dem Ersten Weltkrieg ein großes Thema!) alleinerziehenden Mütter. Der unteren Schichten. Der Ehrgeizigen. Der Evolutionisten. Denn die Idee der Evolution deckt sich nicht nur mit der von einer Hierarchie, die auf persönlicher Leistung beruht, sie geht ihr voraus. Der Evolutionsgedanke beruht eben nicht auf der Ordnung der Arten und Institutionen, die auch menschliches Mittelmaß - und sagen wir es grad heraus: Die meisten Menschen sind eben bestenfalls Mittelmaß - problemlos integriert. Was so nebenbei dazu führt, daß jede solchermaßen geordnete Gesellschaft Mechanismen der Unterdrückung der (leistungsmäßig und an ihrem Ort) Guten entwickelt.

Halder war zwar in der Hinsicht ein Emporkömmling, als schon sein Vater (als Offizier) mit Sicherheit damit konfrontiert war, daß die höchsten Ränge - die Generale, die eben "generaler" denken weil sind - dem Adel vorbehalten blieben. Und Hitler war ohnehin genau das: Ein reiner Emporkömmling einer alleinerziehenden Mutter, der Ablehnung der väterlichen Autorität, der sozialen Unterschicht. 

Als Halder sich aber als das entpuppte, was er war - einer, der sich nach "allem" ausstreckte, also auch die Gesellschaft ordnen wollte - geriet er mit Hitler in Konflikt. Und so tendelte er mit dem Gedanken, zu den Putschisten zu gehören. Ohne sich freilich wirklich dazu entschließen zu können. Es lohnte ja gar nicht mehr, für ihn gab es 1944 nichts mehr zu holen, schon gar angesichts des Risikos das die Männer um den 20. Juli eingingen. Und der Krieg war ohnehin verloren, das wußte nun schon jeder mit ein bißchen Restverstand.**


*Hitler hat dieses Amt 1942 selbst übernommen, weil er den (meist adeligen) Generalen und Offizieren nie traute. Zugleich aber noch nicht -  das Offizierskorps vor allem in den höheren Rängen durch "Emporkömmlinge" völlig ersetzt hatte. Die weit mehr in seiner Hand gewesen wären, weil sie ihm das Wohl und Wehe zu jedem Zeitpunkt verdankten.

Wie Hitlers Vorbild, Napoleon. Der Hitler vorgemacht hatte, wie man eine Gesellschaft revolutionierte. Und der "böhmische Gefreite" machte es ihm auf Punkt und Beistrich nach. Uns ist gar nicht klar, wie sehr Hitler die französische Revolution nachahmte, und wie sehr wir alle in Europa in der Tradition dieser Revolution stehen. 

Die aber selbst wiederum ihr Vorbild ... in den USA hatten! Wenn wir also nach 1918, vor allem aber nach 1945 eine "Amerikanisierung" unserer Lebensverhältnisse erlebt haben, dann ist das nur das Auftreffen eines 1776 begonnenen Bogens der Auflehnung gegen die Fundierung der Staatsmacht im Transzendenten. Die in England selbst bereits seit Heinrich VIII. so geschwächt war, daß sie dem Aufbegehren jenseits des Atlantik nichts mehr entgegenzusetzen hatte. (Ein Auflehnungsprozeß, der aber noch einmal zwei Jahrhunderte früher, nämlich 1308 in der "Magna Charta", ihren Anfang nahm. Die den König entscheidend schwächte und eigentlich zum Repräsentationssubjekt machte. Während das Land sehr weitgehend in der Hand der Adeligen und Grundbesitzer war. Nichts anderes ist dann in den USA geschehen. Die Rebellion gegen König Georg V. war ein Unternehmen, das den besseren Geschäften der Besitzenden in den Kolonien dienen sollte!

Napoleons Generäle waren (im Vergleich) zu größten Teilen bereits "Bürger aus dem Volke" gewesen, wie es ihm die Amerikaner vorgezeigt hatten. Die bestenfalls der [Herrscher hier einsetzen] selbst in den Adelsstand erhoben hatte. Und sie somit doppelt an der Kandare hielt. Aber das hat auch mit der Geschichte Frankreichs als zentralisierter Staat zu tun. In dem der Adel planvoll spätestens seit den Staatskanzlern Kardinal Mazarin im 16. und unter Kardinal Richelieu im 17. Jahrhundert endgültig entmachtet waren. Und deren mögliches Feld des Ehrerwerbs auf "normale" Offizierskarrieren verlagert worden war. 

Ein Landadel wie in deutschen Ländern, vor allem in Preußen, war immer eine Gefahr, und das hatten die französischen Könige schon sehr früh als unerträglich angesehen. Weil solch ein Adeliger sich nie der Person des Führenden gegenüber, sondern einem dem König selbst als Anspruch gegenüberstehenden, übergeordneten Staats- und Volksprinzipien verpflichtet, seinen Ehrbegriff auf der Erfüllung dieser Pflicht zur Selbstüberschreitung begründet sah.

**Verloren war er freilich schon mit dem Einmarsch in die UdSSR, und allerspätestens beim Stillstand der Offensive vor Moskau im Dezember 1941. Mit einer Folge der mangelnden Rüstungsgüter. Nur 10 Prozent - statt für die Strategie notwendiger 60 - 70 Prozent - der Wehrmacht war motorisiert, der Rest ging zu Fuß oder war auf Pferden unterwegs. Selbst die einfachen Soldaten rochen den Braten, daß Deutschland einen Abnutzungskrieg durch seine schlechte Meeresanbindung (Rohstoffe) wie seine begrenzte Bevölkerung auf gar keinen Fall gewinnen konnte, während die Nachschubwege hoffnungslos überdehnt waren. Und die geplante Strategie der "Ernährung aus dem Land" aber - das war tatsächlich ein Kriegsverbrechen der Generalitäten, die Millionen Ziviltote in Kauf nahmen - wie schon bei Napoleon nicht aufging.

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*250521*