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aß sich jede Form von Anerkennung, Respekt und Höflichkeit NUR auf eine Beziehung der Orte berufen darf, ergibt sich schon daraus, daß es nichts gibt, was wir haben, das wir NICHT geschenkt bekommen haben. Viel wichtiger dabei ist aber, daß aus dem Grunde, daß das Ich im Du wird, daß es zum Ich-Werden (im Selbst) die Selbstüberschreitung (also das "Sich vergessen um der Aufgabe willen", also die "Hingabe") braucht, und zwar so braucht, da es ohne diesen Tod, ohne dieses Sterben in einen Ort hinein (aus dem sich das zu Tuende ergibt, und zwar aus den Beziehungen, die der Ort HAT, aus denen sich Verbindlichkeiten und Forderungen ergeben, DIE man dann zu verfolgen hat) gar kein Gestalt gewordenes, zur Persönlichkeit ausgereiftes In-der-Welt-sein gibt.
Wir "sind" also gar nicht, wenn wir uns nicht in die Aufgabe, in den Ort als Gestaltauftrag verlieren, daran hingeben. Und deshalb kann sich alles in-der-Welt-sein nur auf den Ort beziehen. In den wir alle hineingeboren sind.
Was keineswegs - keineswegs! - Statik bedeutet. Denn aus solch einem Ort kann sich auch sogar eine Verpflichtung ergeben, zu "wandern". Ort heißt nicht Unbeweglichkeit, Katatonie, Erstarrung! Sondern jeder Ort ist dynamisch, und Sterben heißt genau diese Dynamik aufzunehmen.
Und gerade in einer Zeit des Zerfalls, wie wir sie so hautnah und "interessant" erleben, kann es eine Notwendigkeit, eine notwendige Selbstaussage sein, ohne die sich die Zeit gar nicht selbst erkennen könnte, könnte es also ein Stück Wahrhaftigkeit sein, zu "wandern".
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Noch dazu, wo die Stufe, auf der wir stehen, die eines Nomaden geworden ist. Und zwar vom Stand der Kultur hergesehen. Erst wenn man das so begreift, kann man auch die Phänomene begreifen, die rund um uns erstanden sind.
Man nehme doch alleine das Tätowieren. Tätowieren ist immer eine selbstgegebene, mobile Identität. Wo der Körper explizit seine Geschichte, also alles, was er IST, ständig mit sich trägt. Sodaß er an jedem Platz, in jeder Stadt, die er ansteuert, sogar mitten im Wellengang auf offener See, als er erkennbar ist. Der Tätowierte traut nicht mehr dem Boden, er hat mit ihm keine Verbindung mehr. Wer sich also tätowiert, vor dem sollte man achtgeben: Er wird davonfliegen.
enn das Tätowierte ist, was er bereits gelebt hat; was er lebt ist ohnehin sichtbar, und es zählt NUR das Körperliche, das körperlich Gewordene, nur danach werden wir am Jüngsten Tag bewertet: an dem, was an uns und INKARNIERT ist, denn nur das ist Geschichte. Somit kann er überall anfangen - so ist zumindest der Gestus, das Archetyp - MIT seiner ganzen Geschichte.
Wer jemals seinen Lebensort gewechselt hat wird wissen, daß gerade die Geschichtslosigkeit, mit der man am neuen Platz aufschlägt, am schwersten zu verkraften ist. Weil es ein Verlust ist, weil es jedes persönliche Verdienst auslöscht. Was ja für manche eben ein gewünschter Effekt, das Motiv für den Ortswechsel ist.
Was der Tätowierte interessanterweise nicht tut! Der Tätowierte will nicht, daß seine Geschichte ausgelöscht wird, und zwar sogar dort, wo er gefehlt hat.*
Während die Ortsbezogenheit der Beziehungsqualitäten - Höflichkeit bezieht sich immer auf den Ort, nicht in erster Linie auf die zufällige Person, die ihn innehält - immer für ein gewisses Sockel-Ich sorgt.
*Eine der Töchter hat künstlerische Veranlagung, was für ein Mädchen doch eher selten, und sie ergießt diese ihre Begabung in den Beruf des Tätowierers. Nicht zuletzt aus Erwerbsgründen, aber auch aus einem geheimen Triebe, andere Menschen so sehr zu bestimmen, daß sie deren Identität "erfindet". Und was der Schriftsteller im Roman, tut sie mit der Nadel. Aber sie hat sich ihren gewissen Ruf auch dadurch erworben, daß sie nicht wenige Aufträge mit besonderem Geschick ausführt, in denen bereits bestehende Tattoos ZU ÄNDERN sind.
Weil "Pipa" am Oberarm heute besser aus dem Menschheitsgedächtnis getilgt wäre, oder weil man das Zeichen, das angeblich einen Papuanischen Fluch aussagt, vielleicht doch lieber in einen eher neutralen Blumentopf mit Baobab geändert hätte.
Sie macht diese Umprägungen mit enorm viel Engagement, das ist offenkundig. Vielleicht, weil es sie stört, daß ihr jemand im Besitz dieses Menschen (denn wer einen Namen gibt, besitzt in gewissem Maße das Benannte) zuvorgekommen ist, auf jeden Fall, weil sie Sinn fürs Nichts hat.
Weil in solcher Neugestaltung sich erst einmal Bestehendes durch einen neuen, rundherum gebauten Zusammenhang auflöst. Also die an sich bedeutungslosen Zeichenelemente zu einer neuen Gestalt verwendet weil einer neuen Deutung zugeführt werden. Die immer aus dem Gesamt - und das ist er, der Ort - hervorgeht, das dem Einzelnen erst Sinn gibt. Der Tätowierer gibt also Namen, die unter der Achsel einen ("grünen") Geschichtsausweis tragen. Und der Tätowierte fügt sich, ob er es weiß oder nicht, und ist dann mehr oder weniger zufrieden mit seinem neuen Schicksal, das das alte auslöscht.